Hochschule Luzern - Musik, Abteilung Jazz

Coltranes Stellvertreter


Das Spiel des Saxofon-Virtuosen David Liebman ist an Intensität und expressiver Ausdruckskraft kaum zu überbieten. Das kompromisslose Streben nach Exzellenz prägt auch seine Tätigkeit als Lehrer. Ende April weilte er für zwei Tage an der Jazzabteilung der Musikhochschule Luzern und gab den Tarif durch. In einem langen Gespräch gab er Auskunft über seine Rolle als Lehrer, sein Verhältnis zur Musik John Coltranes, den Wandel der Jazzszene und seine ästhetischen Vorlieben

Liebman auf CD und im www
Aus seinem Privatarchiv hat Liebman eine 3-CD-Box zusammengestellt, die Konzertaufnahmen versammelt, die seine kongeniale Kooperation mit Richie Beirach dokumentieren (im Duo sowie mit Lookout Farm und Quest): «David Liebman & Richie Beirach» (Mosaic Select 12). Das im Text erwähnte Live-Album von Quest, «Redemption», ist auf dem Schweizer Label Hat Hut erschienen, auf dem eine Reihe weiterer empfehlenswerter Liebman-CDs greifbar sind, z.B. «Bookends» (Duo mit Marc Copland), «Different but the Same» (Two-Tenor-Quartet mit Ellery Eskelin), «The Distance Runner» (Solo). Vom Saxophone Summit gibts bis dato nur das Album «Gathering of Spirits» (Telarc).
Auf www.upbeat.com/lieb kann man sich von Liebmans enormem Mitteilungsbedürfnis überzeugen.

IASJ-Meeting in Luzern
Die von David Liebman 1989 ins Leben gerufene International Association of Schools of Jazz, die sich der Vernetzung und dem Austausch unter Dozierenden und Studierenden widmet, wird ihr alljährliches Meeting 2009 in Luzern durchführen. Dieses Meeting ermöglicht besonders talentierten Studentinnen und Studenten das Mitwirken in internationalen Ensembles, die Teilnahme an Jam-Sessions und den Besuch von Meisterklassen, die von international renommierten Koryphäen geleitet werden.

Einen Wasserfall kann man im Gegensatz zu einem Wasserhahn nicht an- und abdrehen. David Liebman redet sehr oft wie ein Wasserfall - und es braucht einiges an gespannter Aufmerksamkeit, um von seinem Wortschwall nicht erschlagen, sondern erquickt zu werden (die Zitate in diesem Text sind also im besten Fall Haiku-artige Destillate). Liebman ist kein Plappermaul, er hat wirklich etwas zu sagen - und er tut dies mit missionarischem Eifer und einem Hang zu apodiktischen Statements. So steht für ihn unumstösslich fest, dass die 50er- und 60er-Jahre die wichtigste Periode in der Entwicklung des Jazz waren. «Was damals geschah, das haben wir immer noch nicht richtig verdaut», hält Liebman fest.

Als Lehrer hat es sich Liebman zur Aufgabe gemacht, die Errungenschaften dieser goldenen Epoche an eine jüngere Generation weiterzugeben. Dabei kennt er kein Pardon, wenn es um das Erlernen der handwerklichen Grundlagen geht. Auf dem Weg zum kreativen, individuellen Ausdruck gibt es für ihn keine Abkürzungen, sondern sehr viel harte Arbeit (dem Gespräch ging ein 80-minütiger Monolog voraus, in dem Liebman darlegte, wie ein profundes Studium eines einzigen Jazzsolos mehrere Monate in Anspruch nehmen kann, wobei auf die Praxis bezogene Aspekte wie Nachspielen bzw. Nachsingen der abschliessenden, minuziösen Analyse vorauszugehen haben) . Er sagt: «Das Hirn ist ein Muskel und Muskeln sollten trainiert werden.» Und weiter: «Wir sind Wissenschafter, wir sollten genau wissen, was wir tun. Wenn ein Herzchirurg nicht weiss, was er zu tun hat, stirbt der Patient.» Für Liebman gibt es eine Reihe von Regeln, die man genau zu studieren hat, bevor man sie strapaziert. So könne man sich an einer Jazzschule durchaus mit dem Werk von Anthony Braxton befassen: «Aber bitte erst, nachdem alle mit einem guten Swing-Feeling spielen können!» Liebman ist sich auch nicht zu schade, an dem kürzlich mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Ikonoklasten Ornette Coleman herumzukritteln: «Er ist ein grossartiger Melodiker, aber leider hat er sich nie mit Harmonik befasst. Harmonik trägt sehr viel zur emotionalen Tiefe von Musik bei. Wenn man sie ausklammert, ist das eine Schwäche.» Auch wenn man dieses Statement reichlich borniert finden mag, kommt man nicht umhin einzuräumen, dass in diesem Fall nicht eine reaktionäre Agenda dahintersteckt, sondern eine klar definierte ästhetische Position, die Liebman als extrem expressiver und versierter Saxofonist in der Nachfolge von John Coltrane auf überzeugende und aufwühlende Weise verkörpert.

So setzt sich Liebman seit vielen Jahren mit Vehemenz für eine gerechte Beurteilung der spirituell aufgeladenen, kontrovers beurteilten Grenzerfahrungsmusik“ ein, die Coltrane (1926-67) nach der Auflösung des legendären Quartetts (mit McCoy Tyner, Jimmy Garrison, Elvin Jones) während den zwei letzten Jahren seines Lebens spielte: «Diese Phase seines Schaffens wird vernachlässigt. Ich habe einige seiner letzten Konzerte selbst gehört. Es war unglaublich. So kraftvolle Musik habe ich zuvor und danch nie mehr gehört. Es gibt nichts, womit sich dieses Erlebnis vergleichen liesse.» Im Oktober wird Liebman mit dem Saxophone Summit ein Album mit lauter Balladen aus der Spätphase von Coltrane aufnehmen - dabei wird dessen Sohn Ravi die Position des kürzlich verstorbenen Michael Brecker einnehmen; der dritte Teilnehmer an diesem von Liebman initiierten Saxofonisten-Gipfeltreffen ist Joe Lovano. Liebman wurde durch die Begegnung mit der Energie Coltranes sozusagen entflammt - seither brennt ein inneres Feuer in ihm, das er beim Spielen nicht vollkommen unter Kontrolle hat: «Ich kann nicht anders, ich gehe nicht berechnend vor. Wenn man diese Art von Musik spielt, sollte man Kopf und Kragen riskieren.» Selbstverständlich setzt diese Extremform kreativer Entfesselung eine sehr gute Vorbereitung voraus. Für Liebman manifestieren sich im Jazz all die Dinge, um die sich unser Leben dreht, auf spontane Weise: «Das ist das Grossartige daran. Im Jazz explodiert die Gegenwart und wird zu einem Makrokosmos. Die Herausforderung für die Musiker besteht darin, ganz im Moment aufzugehen und nicht über die Gage nachzudenken oder sich von einem hübschen Gesicht im Publikum ablenken zu lassen. Darin steckt eine Freiheit, die wir alle gut gebrauchen können.»

Mit «Ogunde» ist ein Stück aus Coltranes Spätphase auf der kürzlich veröffentlichten Live-CD «Redemption» zu hören, die 2005 im Rahmen einer Re-Union-Tournee der Gruppe Quest entstand. Nach der eklektizistischen, teilweise elektrifizierten Band Lookout Farm war Quest 1981 die zweite Formation, die aus der engen künstlerischen Partnerschaft zwischen Liebman und dem Pianisten Richie Beirach hervorging. Seine endgültige Form fand dieses akustische Quartett 1984: Mit den zwei Gründervätern, die auch häufig im Duo zu musizieren pflegten, dem Bassisten Ron McClure und dem Schlagzeuger Billy Hart hatten vier Musiker zusammengefunden, die auf derselben Wellenlänge zu Höhenflügen abhoben. Um Quest kommt man nicht herum, wenn man sich ernsthaft für Liebmans Schaffen interessiert - er selbst sagt: «Jeder in dieser Gruppe ist unersetzlich, wir bilden eine Einheit. Als wir nach einer sehr langen Pause wieder gemeinsam auftraten, konnten wir nahtlos an frühere Erfahrungen anknüpfen. Ich würde nie versuchen, den Quest-Sound mit anderen Musikern zu kreieren.» Als Hauptinspirationsquellen für diesen Sound, der nicht zuletzt durch eine vielschichtige «polychord»-Harmonik geprägt wird, nennt Liebman Coltrane und das zweite grosse Miles Davis Quintet (mit Wayne Shorter, Herbie Hancock, Ron Carter, Tony Williams).

Liebman sieht sich selbst als Vertreter der letzten Generation, die sich ihr Wissen nicht an einer Jazzschule abholen konnte. Er habe die Chance gehabt, als junger, noch unfertiger Musiker in den Gruppen von Elvin Jones und Miles Davis mitzuwirken und betrachte sich deshalb als «gesegnete Person», sagt Liebman, fügt aber sogleich hinzu: «Es war mühsam, alle Informationen selber beschaffen zu müssen. Das Wissen, das meinen Studenten heute zur Verfügung steht, hatte ich damals nicht.» Die Akademisierung des Jazz wird von Liebman sehr nüchtern betrachtet, also weder glorifiziert noch dämonisiert: «Wenn eine Kunstform akademisch wird, verliert sie ihren Status als Bewegung oder Lebensform. Das heisst nicht, dass sie tot ist. Wir leben ja längst nicht mehr im Barockzeitalter und trotzdem wird noch Barockmusik gespielt. Auf der anderen Seite nimmt unser Verständnis für die Kunstform zu. Als Coltrane «Giant Steps» aufnahm, wusste ausser ihm niemand so recht, was da vor sich ging. Jetzt wissen wir es. Jazz ist ein Stück Geschichte und aus der Geschichte können wir sehr viel lernen.» Und was bedeutet das für die Jazzszene? «Es findet eine Uniformisierung statt. Wenn ich zwanzig Leute in einem Klassenzimmer habe, muss ich den Stoff zwangsläufig generalisieren. Aber Kreativität kann man sowieso nicht lernen. An einer Schule wird man mit Informationen vollgestopft, man kann sowieso nicht alles verarbeiten. Entscheidend ist, was man nach der Schule damit anfängt.» Sozusagen als Gegengewicht zur zunehmenden Gleichförmigkeit wird es gemäss Liebman immer eine crème de la crème“ geben, die dafür besorgt ist, dass die Entwicklung des Jazz nicht vollkommen zum Erlahmen kommt.

Tom Gsteiger


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