Hochschule Luzern - Musik, Abteilung Jazz

Music Talks XV - Steve Coleman
«Ich brauche das Wort Jazz nie»


Im Kontinuum afro-amerikanischer Musizierpraktiken nimmt Steve Coleman eine Vermittlerposition zwischen oraler Tradition und konzeptioneller Strenge ein. Im Music Talk erklärte der Altsaxofonist, dass es in erster Linie rhythmische Aspekte sind, die ihn mit der älteren Generation verbinden. Und er warnte davor, den von ihm geprägten Begriff M-BASE als Stil zu bezeichnen. Coleman war als Nachfolger von Michael Gibbs und Vorgänger von John Hollenbeck als Gastdozent in Luzern tätig.


Steve Coleman Luzern

Music Talks
Mit der Gesprächsserie “Music Talks” lädt die Jazzabteilung der Hochschule Luzern ein zu facettenreichen Begegnungen mit profilierten Persönlichkeiten des Gegenwartsjazz. Die Gespräche drehen sich nicht nur um den Werdegang und das künstlerische Schaffen dieser Persönlichkeiten: Anhand von Tonbeispielen sollen auch persönliche musikalische Vorlieben diskutiert werden. Die Frage nach den Zukunftsperspektiven des Jazz soll ebenfalls aufs Tapet gebracht werden. Die Gespräche werden geführt von Tom Gsteiger, Journalist und Dozent für Jazzgeschichte.

In Zusammenarbeit mit:
Musik-Forum Luzern

(Vorbemerkung: Charlie Parker starb 1955. Steve Coleman kam 1956 auf die Welt.)

Es ist kein Zufall, dass Steve Coleman in einem sehr langen Essay, in dem er die Musik von Charlie Parker minuziös analysiert, das Wort Jazz kein einziges Mal gebraucht (ironischerweise erschien der Essay auf der Webpage jazz.com). Für Coleman ist Jazz ein «category-name», dem es an Aussagekraft gebricht: «Wenn man Jazz sagt, dann denken die einen vielleicht an Kenny G. und andere an Count Basie. Ich selbst würde meine Musik nur dann als Jazz bezeichnen, wenn ich eine Diskussion mit einem “Knucklehead” aus Texas abkürzen möchte», meint Coleman lachend.

In seinem Essay legt Coleman grossen Wert auf die rhythmischen Aspekte in der Musik von Parker, wobei er die halsbrecherischen Höhenflüge des Altsaxofonisten nicht isoliert betrachtet, sondern in Verbindung setzt zum Rest der Band. Insbesondere die Interaktion zwischen Parker und dem Schlagzeuger Max Roach nimmt er genauer unter die Lupe. Für Coleman ist klar: «Die meisten Kritiker, die über Parker schrieben, waren weiss und nahmen eine typisch westliche Perspektive ein. Die rhythmischen Innovationen Parkers nahmen sie nicht richtig zur Kenntnis. Als ich in der South Side von Chicago aufwuchs, redeten dagegen alle Musiker um mich herum von rhythmischen Dingen.»

Eine wichtige Informationsquelle für den jugen Coleman war der Tenorsaxofonist Von Freeman, ein Doyen der Szene in Chicago. Später zog Coleman u.a. mit Sonny Stitt um die Häuser. Er sog also die musikalischen Informationen in traditioneller, oraler Manier auf - eine Musikschule besuchte Coleman nicht und Privatlektionen nahm er auch nicht. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass er in seiner Rolle als Lehrer keine Samthandschuhe anzuziehen pflegt: «Ich bin da ziemlich hart und habe keine Geduld mit Leuten, die sich nur halbherzig engagieren. Es ist wichtig, dass die Studierenden das Stadium das Nachahmens hinter sich lassen und verstehen, was hinter der Musik steckt.» In seiner eigenen Entwicklung habe er stets darauf geachtet, das Augenmerk nicht ausschliesslich auf handwerkliche Aspekte zu lenken, sondern immer auch an eigenen Ideen und Konzepten zu arbeiten, betont Coleman: «Auch wenn anfänglich im Vergleich mit den Meistern alles schlecht klingt, ist es wichtig, sich nicht davon beirren zu lassen. Eigene Ideen müssen gedeihen und wachsen können wie eine Pflanze. Das braucht Zeit.»

Zu Colemans Wachstum gehörte Ende der 1970er-Jahre die Übersiedlung nach New York, wo er zuerst in der Jugendherberge wohnte und als Strassenmusiker auftrat. Es folgten Engagements in der Thad Jones / Mel Lewis Big Band sowie an der Seite von Sam Rivers und Cecil Taylor. Mit seiner eigenen Band (Five Elements) und als Mitglied im epochalen Quintett des Bassisten Dave Holland (u.a. mit Kenny Wheeler, Julian Priester und Marvin Smitty Smith) begann sich Coleman als innovativer Konzepter zu profilieren. Es begann sich ein Pool von gleichgesinnten Musikern herauszubilden, der unter dem von Coleman geprägten Akronym M-BASE für Furore sorgte. M-BASE steht für Macro-Basic Array of Structured Extemporizations. Coleman legt grössten Wert darauf, dass es sich bei M-BASE nicht um einen Stil handelt, sondern um eine nicht-westliche Denkweise und ein Bündel von Ideen und Konzepten, denen auch eine spirituelle Komponente innewohnt. Im Laufe der Jahre hat Coleman sein musikalisches Schaffen immer weiter in metaphysische Gefilde vorangetrieben - als Inspirationsquellen konsultierte er u.a. Planetenbahnen, alt-ägyptische Geheimlehren, das Spektrum der Farben oder er versuchte, die Metamorphose von Wolken in Musik umzusetzen. Seit 1993 unternimmt er selbstfinanzierte Studienreisen, auf denen er eine Form intuitiver Musikethnographie betreibt. Die erste dieser Reisen führte ihn nach Ghana, weitere Ziele waren u.a. Kuba, Indonesien, Indien und Brasilien. Teilweise ergaben sich daraus musikalische Kooperationen.

Der indo-amerikanische Pianist und Musiktheoretiker Vijay Iyer stellt seinen ehemaligen Mentor Coleman auf eine Stufe mit John Coltrane. Gemäss Iyer besteht Colemans Œuvre im Kern aus «open improvisational forms with structered rhythmic multiplicity». Dass Coleman in den letzten Jahren dazu übergegangen ist, die Grundlagen seiner Musik nicht mehr zu notieren, sondern durch Vorklatschen und Vorsingen zu vermitteln, zeigt deutlich, dass er sich nicht als eurozentrisch ausgerichteter Komponist, sondern als Katalysator kollektiver Prozesse begreift. Dass er sich weit von seinen Ursprüngen entfernt hat, ist Coleman bewusst, sagt er doch: «Früher hätte mir die Musik, die ich heute mache, nicht gefallen. Ich hab ja nicht mal Parker gemocht, als ich ihn zum ersten Mal hörte.»

Für seine unersättliche Neugierde und seinen konsequenten Nonkonformismus hat Coleman keine Erklärung parat: «Ohne Konformitätsdruck gäbe es keine Gesellschaften. Trotzdem gibt es immer wieder Menschen, die ihrer inneren Stimme folgen - Beethoven, Kepler, Coltrane ... Wir sollten dankbar für solche Menschen sein, die bereit sind, einen Preis für ihr Anderssein zu bezahlen.» Obwohl er konsequent seinen eigenen Weg geht, hält Coleman nichts von der Idee des einsamen Genies: «In meiner Musik gibt es kein einziges Element, das ich als total neu bezeichnen würde. Ich zapfe ständig fremde Quellen an. Es geht darum, nicht auf der Stufe der Imitation stehen zu bleiben, sondern eine persönliche Perspektive zu entwickeln. Wäre meine Musik vollkommen neu, könnte ja niemand mit mir spielen. In der Musik geht es wie in der Sprache um Kommunikation.» So basiert sich zum Beispiel Colemans Altsax-Spiel, das sich durch eine Mischung aus atemberaubender Action und cooler Abstraktion auszeichnet, zu einem guten Teil auf Errungenschaften, als deren Urheber die Ikone Parker und der ewige Geheimtipp Bunky Green gelten dürfen. Und Coleman macht keinen Hehl daraus, dass der Schlagzeuger Doug Hammond ein wichtiger Lieferant von rhythmischen Ideen war, die im Rahmen von M-BASE-Formationen zur Anwendung gelangen.

www.m-base.com
Steve Colemans Parker-Essay
Vijay Iyer über Steve Coleman und M-BASE

Tom Gsteiger


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