Hochschule Luzern - Musik, Abteilung Jazz

Jazz Talks VIII - Tim Berne
Tim Bernes Musik ist «Tim-Berne-Musik»


Ein schräger Jazz-Avantgardist aus New York: So möchte der 1954 geborene Saxofonist, Komponist, Bandleader und Label--Gründer Tim Berne, der im Mai für Workshops und ein Step-across-the-border-Konzert in Luzern weilte, auf keinen Fall genannt werden! Berne hat die Erfahrung gemacht, dass seine Musik nicht nur Insider zu begeistern vermag, wenn sie nicht mit einengenden Etiketten versehen wird. Angeregt von Vorbildern wie Julius Hemphill, Anthony Braxton und Roscoe Mitchell entwickelte Berne, der erst in der College-Zeit zufälligerweise Saxofon zu spielen begann, seine eigene Musik in autodidaktischer Do-it-yourself-Manier.


Tim Berne

Jazz Talks
Mit der Gesprächsserie “Jazz Talks” lädt die Jazzabteilung der Hochschule Luzern ein zu facettenreichen Begegnungen mit profilierten Persönlichkeiten des Gegenwartsjazz. Die Gespräche drehen sich nicht nur um den Werdegang und das künstlerische Schaffen dieser Persönlichkeiten: Anhand von Tonbeispielen sollen auch persönliche musikalische Vorlieben diskutiert werden. Die Frage nach den Zukunftsperspektiven des Jazz soll ebenfalls aufs Tapet gebracht werden. Die Gespräche werden geführt von Tom Gsteiger, Journalist und Dozent für Jazzgeschichte.

Tim Berne hat seine liebe Mühe mit Begriffen wie Jazz, Free Jazz oder Avantgarde. «Solche Etiketten sind zu simpel und schrecken gewisse Leute unnötigerweise ab. Meine Musik klingt anders als die Musik von Cecil Taylor. Ein Staubsauger ist kein Besen!» So drückte sich Berne nicht im Rahmen der Reihe «Jazz Talks» aus, sondern in einem Telefoninterview, das er mir letztes Jahr vor seinem Auftritt am Jazzfestival Basel gab. Beim Gespräch in Luzern meinte er nun zusätzlich: «Beim Wort Jazz denke ich an Sonny Rollins, Miles Davis oder Charlie Parker. Ich glaube nicht, dass meine Musik Jazz ist.» Am liebsten wäre es Berne, man würde seine Musik als «Tim-Berne-Musik» bezeichnen.

Aber was ist «Tim-Berne-Musik»? Es ist unmöglich, seine zahlreichen Werke für zahlreiche Gruppen über einen Kamm zu scheren. Nichtsdestotrotz gibt es Merkmale, die in Bernes Musik besonders häufig auftauchen und die es erlauben, ein paar Generalisierungen zu wagen, ohne allzu pauschalisierend zu werden. Was an Bernes Musik auffällt, ist nicht zuletzt ihre radikale Sinnlichkeit und emotionale Direktheit - kaum etwas an ihr wirkt gekünstelt. Durch repetitive, insistierende und gleichzeitig vertrackte Patterns bzw. durch Endlos-Mäander wird oft ein Zustand erreicht, der an Trance grenzt; als Kontrastmittel zu dieser Trance wird mit speziellen Klanglegierungen gearbeitet. Komposition und Improvisation fliessen häufig ineinander und sind darum manchmal kaum voneinander zu unterscheiden. Berne möchte, dass die komponierten Parts «loose» klingen und die Improvisationen «tight» sind - und er fügt hinzu: «Im Vergleich zu einem Anthony Braxton habe ich kein Konzept. Was mich interessiert, ist die Gegenüberstellung von Präzision und Chaos.» Und mit leicht ironischem Unterton und beiläufig, nämlich in einem Kommentar zu einem Musikbeispiel des von ihm bewunderten Gitarristen Marc Ducret, meint Berne auch noch: «I’m the king of “too-much”.»

Zu seinem ersten Saxofon kam Berne fast wie die Jungfrau zu ihrem Kind. Mit einer Knöchelverletzung, die er sich beim Basketball geholt hatte, lag er als College-Student gelangweilt auf seinem Zimmer und kaufte einem Mitstudenten aus einer Laune heraus ein Saxofon ab. Kurze Zeit später hörte er das Album «Dogon A.D.» des afro-amerikanischen Saxofonisten Julius Hemphill und war von dessen Mischung aus R’n’B- und Free-Jazz-Elementen begeistert. 1974 zog Berne nach New York und wurde Hemphills Schüler. Er nahm auch einige Stunden bei Anthony Braxton und bei einem klassischen Saxofonisten. Aber am wichtigsten war ganz klar die Begegnung mit Hemphill: «In Bezug auf Sound war sein unsystematischer Unterricht recht konkret. Er inspirierte mich dazu, kreativ sein zu wollen. Er sprach mit mir auch über seine Kämpfe. Und er sagte mir auch: Du musst Gigs spielen.» So begann Berne, seine eigene Musik zu komponieren («beim Komponiern versuche ich immer, nicht an andere Musik zu denken») und sich nach geeigneten Musikern umzuschauen («damals waren so gut wie alle Musiker besser als ich, also musste ich besser werden»). Es begann eine rund 10-jährige Phase, in der er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt und pro Jahr zwischen fünf und zehn Konzerte selber organisierte. Von 1979 bis 1984 brachte er fünf Platten auf seinem eigenen Label Empire Records heraus, ausser die letzte hat er alle als CDs in einer Box auf seinem vor über einem Jahrzehnt gegründeten Label Screwgun veröffentlicht. Berne über Screwgun: «Ich hatte es einfach satt, mir ständig das Gejammer der Musikproduzenten anzuhören. Jetzt gehören mir alle Rechte. Und ich muss keine Rücksicht auf irgendwelche Marketing-Überlegungen nehmen, sondern kann aufnehmen, was und wann immer ich will.»

Den Prozess des Komponierens bezeichnet Berne als mühsame Arbeit, die mehr mit Transpiration als mit Inspiration zu tun habe: «Es ist nicht magisch. Man braucht sehr viel Geduld.» Normalerweise steht Berne, der in Brooklyn lebt, um sieben auf und arbeitet bis drei Uhr - danach geht er oft ins Kino: «Ich schaue mir fast alle neuen Filme im Kino an. Ich hasse Videos.» Zuweilen pflegt Berne ja auch ganz ohne Vorgaben zu improvisiern. Warum tut er sich die Kompositionsarbeit dann überhaupt an? «Ich kann nicht anders, es gibt da einen starken inneren Antrieb, von dem ich nicht weiss, woher er kommt.» Berne schätzt sich glücklich, immer wieder Musiker zu finden, die Dinge aus seinen Stücken herausholen, die er in diesen nicht vermutet hat. Er erläutert: «Ich will den Musikern stimulierende Ideen liefern, ihnen Material geben, das sie in der Improvisation selbstverantwortlich erweitern können. Wenn man zusammen improvisiert, passieren manchmal Dinge, die nicht rational erklärbar sind.» Für seine Bands pflegt Berne keine stromlinienförmigen Alleskönner, sondern originelle Charakterköpfe mit Ecken und Kanten zu engagieren - auf der Liste der Berne-Mitstreiter stösst man auf Namen wie Paul Motian, Bill Frisell, Joey Baron, Herb Roberton, Hank Roberts, Jim Black, Marc Ducret, Craig Taborn, Tom Rainey, Chris Speed usw.

Als Sideman wirkt Berne nur in Bands mit, mit deren Musik er sich zu identifizieren vermag. Er braucht das Gefühl, etwas Eigenständiges zum Gesamtresultat beitragen zu können. Dass er sich mit dem Standards-Repertoire des Jazz in seiner musikalischen Praxis nicht auseinandergesetzt hat, empfindet Berne nicht grundsätzlich als Manko: «Es gibt nicht nur diese Tradition, sondern viele verschiedene Traditionen. Ich arbeite ja auch mit Musikern zusammen, die in anderen Kontexten Standards spielen. In der Ausbildung an den Jazzschulen wird für mein Empfinden das Standards-Spielen zu sehr auf technische Aspekte reduziert. Die Songs geraten dadurch in den Hintergrund. Man sollte sich viel stärker mit den Melodien befassen.» Obwohl sich für ihn die autodidaktische Do-it-yourself-Methode als richtig erwiesen hat, lehnt Berne Jazzschulen nicht grundsätzlich ab: «Man ist von vielen Musikern umgeben und kann zusammen spielen - das ist eine positive Sache. Ich würde mir allerdings wünschen, dass die Stundenpläne nicht so dicht strukturiert sind - es wäre doch besser, wenn man dem, was einen interessiert, auf den Grund gehen könnte, statt von Lektion zu Lektion zu hetzen.» Seine Hauptrolle als gelegentlicher Workshop-Leiter sieht Berne darin, den Teilnehmern seine eigene Begeisterung für die Musik näherzubringen: «Ich will nicht, dass sie mir folgen, sondern sie dazu motivieren, ihr eigenes kreatives Potenzial auszuschöpfen.» Mit anderen Worten: Es braucht keine Tim-Berne-Klone, es genügt, wenn Tim Berne selber «Tim-Berne-Musik» spielt.

Ethan Iverson interviewt Tim Berne
Berne's Label
Tim Berne’s Bloodcount zum Gucken und Hören

Tom Gsteiger


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