Hochschule Luzern - Musik, Abteilung Jazz

Improvisation – das Gewöhnliche im Unfassbaren

Im Gespräch mit Hämi Hämmerli, Künstlerischer Leiter der MHS Luzern, Fakultät III und Urban Mäder, Fachbereichsleiter Pädagogik MHS Luzern Fakultät I

Die Improvisation lässt sich nicht mit herkömmlichen Genres einteilen. Improvisation im Jazz, Improvisation in der Neuen Musik, freie Improvisation – was ist der Unterschied? Die Vergabe des Marguerite de Reding Preises“ 2001 anfangs November in Luzern hat gezeigt, dass das festgefügte Spartendenken je länger je mehr obsolet geworden ist. Das wurde nicht nur musikalisch hörbar. So denken auch Fachpersonen, die sich – aus unterschiedlichen Lagern kommend – täglich mit Improvisation befassen: Ein Gespräch mit Hämi Hämmerli und Urban Mäder.

-pb. Es lässt sich weder planen noch festhalten. Es passiert, wenn es passiert. Und wenn es wirklich passiert, ist es wunderbar. Für die Musikerinnen und Musiker wie für die Zuhörenden. Was ist es“? Es ist etwas Unfassbares, das sich ereignet. Dann, wenn die Instrumentalisten, die miteinander improvisieren, ganz und gar da sind. Sich ihrer Absichten entledigt haben und nur noch der Augenblick ist, der Musik wird. Nichts mehr, das dazwischen steht. Musik, die mit jeder Pore einfach stimmt.

Moment

Sternstunden sind das, selbst für erfahrene Improvisierende. Für solche Highlights übt man ein Leben lang“, sagt Hämi Hämmerli. Der Kopf ist ausgeschaltet, es geht direkt von den Ohren in die Finger. Alles ist in der Gegenwart. Und du siehst, wo es hingeht, du hörst Sachen im voraus, obwohl du mit den andern nichts abgesprochen hast.“ Wenn die freie Improvisation diese Zonen quert, hat sie ihr Nicht-Ziel erreicht: Nichts zu wollen, ausser voll und ganz im Moment zu sein. Es spielen, atmen, ruhen, tanzen zu lassen.

Hämi Hämmerli als Jazzmusiker in der Improvisation erlebt, ist auch für Urban Mäder, Improvisations-Pädagoge an der Fakultät I, wohlbekannt. Überhaupt: Wenn die beiden über Improvisation diskutieren, reden sie von sehr ähnlichen Erfahrungen und Zusammenhängen. Ihre Herkunft“ spielt keine Rolle mehr: Ihre Fakultäten tragen bloss verschiedene Ziffern. Wenn sie etwa die Vortragskonzerte am Prix de Reding 2001 analysieren, beginnen die üblichen Spartengrenzen durchlässig zu werden. Nicht anders klang auch die Musik in der Jazzkantine. Sie widerspiegelte den aktuellen Stand der Improvisationsszene in der Schweiz (siehe Kasten).

Erfinden

Improvisation ist nichts Abgehobenes, nichts Weltfremdes oder Esoterisches. Improvisation sei die Tätigkeit, die man am meisten ausübe, zitiert Urban Mäder sinngemäss eine Aussage von Derek Bailey in dessen wegweisendem Buch über die Improvisation“. Die meisten improvisieren nicht auf einer Bühne, sondern irgendwo im Alltag. Wenn sie sprechen, organisieren, Fäden aufgreifen, etwas tun oder lassen.

Wir alle haben ein Repertoire an Erfahrungen und Angelerntem, mit dem wir jeden Tag unzählige Entscheidungen treffen. Wenn diese Entscheidungen Töne wären: Wir hätten schon zahlreiche Konzerte gegeben. Aber hätten sie auch geklungen? Was macht es denn aus, dass die musikalische Improvisation offenbar so anders, schwieriger ist? Je freier die Musik, desto stärker müsse sie erfunden“ werden, sowohl vom Material, als auch vom ganzen Kontext her“, sagt Urban Mäder.

Üben

Auf dem Internet und in Dutzenden von Handbüchern lassen sich Anleitungen finden, wie zu diesen oder jenen Akkordfolgen am besten improvisiert werden kann. Gefährlich sei das, sagt Hämi Hämmerli. Urban Mäder unterscheidet zwischen freier und gebundener Improvisation. Bei der gebundenen Improvisation, wie sie im klassischen Jazz oder in verschiedenen Volksmusiken vorkommt, könnten bestimmte Abfolgen und Wendungen gelernt werden. Im Falle der freien Improvisation sind systematische Lehrgänge sicher fragwürdig. Hier wird das Lehren stark von der Individualität der Lehrpersonen geprägt.“

Wenn Hämi Hämmerli übt, dann im Hinblick darauf, seine Techniken auf dem Instrument so zu vervollkommnen, damit er möglichst jederzeit das spielen kann, was er hört, wenn es soweit ist. Vorsätzlich Improvisation zu üben, das geht nicht. Improvisation heisst, bereit zu sein für das, was passiert.“ In der Improvisation könne man höchstens das üben, was festgelegt sei, meint auch Urban Mäder. Aber das, was den Kick jeder Improvisation ausmacht, das lässt sich nicht proben.“ Improvisierende befassten sich mit dem Moment. Geschehen lassen, was geschehen muss. Das ist das Faszinierende an der Improvisation, und das gibt Dir wirklich das totale Gefühl.“

Muster

Beide sind sich einig, dass eine Improvisation umso besser gelingt und umso spannender wird, je mehr die Beteiligten das Vokabular ihres Instrumentes beherrschen. Der Ausdruck werde modifizierter, sagt Urban Mäder. Je wendiger Du auf dem Instrument bist, über desto mehr Möglichkeiten und potentielles Material verfügst Du, um es in den entscheidenden Momenten in den Fluss zu bringen“, weiss Hämi Hämmerli. Andererseits ist für beide klar, dass es selbst erfahrene Musiker nicht vermeiden können, immer mal wieder in Klischees und bestimmte Muster verfallen.

Urban Mäder stört das nicht sehr. Unser tägliches Leben ist bestimmt von Wiederholungen. Ich wüsste niemanden, der es schafft, auf der Bühne laufend Neues zu kreieren. Es ist wie mit der Sprache. Auch wenn ich rede, kreiere ich nicht immer den absolut neuen Satz.“ Umso wichtiger sei es, die instrumentalen Techniken und vor allem die Wahrnehmung zu schulen, sich also mit tonalen Qualitäten, Abläufen, Dichtegraden und Spannungszuständen auseinander zu setzen. Dazu komme die menschliche und soziale Seite. Ich habe sehr hohe Ansprüche, mit wem ich improvisiere. Bei der Wahl von Leuten, mit denen ich improvisiere, müssen auch Dinge stimmen, die über das Musikalische hinausgehen.“

Agieren

Improvisation setze eine hohe Risikobereitschaft und eine starke Persönlichkeit der Beteiligten voraus, sind sich Hämmerli und Mäder einig. Das sei nicht jedem und jeder gegeben. Es müssten möglichst gleichwertige Leute“ sein, die möglichst klare Aussagen machten. Mit Wischi Waschi-Haltungen funktioniere eine Improvisation nicht, hat Hämmerli erfahren. Die Beteiligten müssen einerseits extreme Egoisten, ja fast Autisten sein, andererseits dürfen sie nie die andern Stimmen und den Gesamtkontext ausser Acht lassen. Es ist ein ständiges Agieren und Reagieren.“

Während die Improvisation an der Fakultät III ausbildungsmässig sozusagen zur Grundnahrung gehört, die in vielen Fächern und Workshops thematisiert und praktiziert wird, fristet sie an der Fakultäten I und II noch ein Randdasein. Immerhin: Seit drei Jahren wird Improvisation an der Fakultät I als obligatorisches Fach im Grundstudium angeboten. Das ist nicht zuletzt der Initiative und dem Druck von Urban Mäder und Thüring Bräm zu verdanken.

Verbindendes

Im Umfeld der Fakultät I ist die Auseinandersetzung mit Improvisation bitter nötig. Nach wie vor besteht in der Ausbildung ein grosses Übergewicht in der Reproduktion von historischer Musik.“ Die wenigsten Studenten hätten schon improvisiert. Andererseits ermögliche diese Unschuld auch einen frischen Zugang, da noch nichts vorgeprägt sei. Natürlich lasse sich pädagogisch nicht vermitteln, was in der Improvisation selber passiere, weiss Mäder. Aber es geht darum, einen Kontext schaffen, in dem die Prozesse möglichst ungehindert fliessen und musikalische wie soziale Erfahrungen gemacht werden können.“

Urban Mäder würde sich wünschen, dass die Improvisation an der Fakultät I auch im Hauptstudium Pädagogik ein Thema wäre und mittelfristig vielleicht sogar zu einem pädagogischen Schwerpunkt Improvisation/Komposition“ ausgebaut werden könnte. Berührungsängste zwischen Komposition und Improvisation kennt er ohnehin keine - und kennt auch Hämi Hämmerli nicht.

Es gibt mehr Verbindendes zwischen den beiden Vorgehensweisen, als man auf Anhieb denkt. Strenggenommen wird jede Komposition bei ihrer Interpretation wieder neu geschaffen. Urban Mäder: Jedes Reproduzieren ist wieder ein Ausdruck der jeweiligen Zeit und umfasst viel mehr, als nur das Wiedergeben der angegebenen Notenwerte. Die Lebendigkeit des Moments ist das Elixier jedes Musikmachens, sei es interpretativ oder improvisativ.“

 

Die Durchlässigkeit wächst

-pb. Freie Improvisation und komponierte Musik sind in der letzten Zeit stärker zusammen gerückt: Dieser Eindruck bestätigte sich für Hämi Hämmerli und Urban Mäder anlässlich des Wettbewerbes Marguerite de Reding Preis“ anfangs November in der Jazzkantine. Anspruchsvolle Themen, die geschrieben waren, durchdrangen sich mit freien Improvisationen. Das war sowohl bei den jazznahen Formationen festzustellen wie bei jenen, die aus dem Bereich Klassik kommen“, sagt Hämi Hämmerli.

Unbekümmertheit

Urban Mäder liess sich am Wettbewerb insbesondere von den jungen Musikern und Musikerinnen überraschen. Diese Leute können locker und unbekümmert Stile zusammen mischen, ob das Material nun aus der Elektronik, dem Rock, dem Jazz oder der Neuen Musik stammt. Ich finde das toll, auch wenn ich mir beim einen oder andern Beispiel die Frage stellte, wo angesichts der vielen Möglichkeiten der Musiker, die Musikerin selber stand.“

Hämi Haemmerli begrüsst und unterstützt diese vermehrte Durchlässigkeit. Das hohe Niveau der Improvisation zeigt sich heute darin, dass die Musizierenden aus allem Möglichem schöpfen. Sie können mit geschriebenen Teilen umgehen und sie spontan verändern, als auch jazzmässig über Harmonien oder ganz frei improvisieren.“

Beide glauben, dass der Free Jazz der Sechziger Jahre angesichts der veränderten gesellschaftlichen Bedingungen und der aktuellen Entwicklungen Schnee von gestern“ ist. Was damals in einem totalen Befreiungsschlag heraus gelassen“ worden sei, habe sich in subtilen Veränderungen bis heute weiter entwickelt. Dennoch: Die Befreiung als Sprengkraft musikalischer Prozesse ist nicht überflüssig geworden.

Befreiung

Für viele Teile des klassischen Musiklernens wäre das eine Befreiung von der Dominanz der Reproduktion“, wie es Urban Mäder formuliert. Und bei der Fakultät III wäre in einigen Fällen schon wieder die Befreiung von zuviel Angelerntem“ angesagt, wie Hämi Hämmerli selbstkritisch feststellt. Überhaupt, meint Hämmerli: Die Experimentierfreude hat schon bessere Zeiten erlebt. Man ist heute generell nicht mehr so risikofreudig. Die Versuche, Konventionen zu durchbrechen, sind weniger zu beobachten.“ Das komme nicht von ungefähr, mutmassen die beiden Musiker. Gegen wen oder was soll heute rebelliert werden? Die Provokationen sind alle schon gemacht.“

Höchste Zeit, es dennoch zu tun.


Hämi Hämmerli ist künstlerischer Leiter der Fakultät III der Musikhochschule Luzern. Hämmerli spielt Kontrabass in diversen Bands und Projekten.

Urban Mäder hat sich als Komponist einen Namen gemacht und unterrichtet Improvisation in verschiedenen Formen, vom Einzel- bis zum Gruppenunterricht. Er ist Leiter des Fachbereichs Pädagogik an der Fakultät I der Musikhochschule Luzern.


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