Hochschule Luzern - Musik, Abteilung Jazz

Lernen im Jahre 2050

aus der Pädagogikarbeit von Beat Gerspach

Michel S. und sein Piano

Nach einem gehaltvollen Frühstück macht sich Michel S. auf den Weg in die "Schule". Er geht in sein Lernzimmer, dass ihm seine Eltern nach Vorlage des Schulkoordinators für die Altersstufe 6.-9. Schuljahr eingerichtet hatten. Michel S. geht gerne "zur Schule", denn sein persönliches Lernzimmer, lichtdurchflutet und nach den neuesten lernergonomischen Grundsätzen gestaltet vermittelt ihm viel Freude und nur selten Verdruss. Er setzt sich vor seinen TERRA-TECH 3-D SCREEN und holt sich seine Lektionen für heute ins Zimmer.

Um Zeiteinteilung muss Michel sich nicht kümmern. Die von der Schulbehörde zur Verfügung gestellte Software "Coordination of Learning" stellt ihm zugeschnitten auf sein Persönlichkeitsmuster seine heutigen Lektionen bereit, übernimmt die Prüfung des Erlernten und teilt Hausaufgaben in ideale Arbeitspakete ein. Heute morgen steht für Michel Musik auf dem Programm.

Michel spielt auf einem Digi Steinway mit vollintegrierter Lernsoftware. Sein Instrument ist standardmässig mit einem 50 Gigabyte Soundmodul ausgestattet, mehrfach HYPER CD-ROM-RAM 32/x und vielen anderen Extras wie authentisch gewichteter Tastatur. Angefangen hatte sein Interesse für Piano vor 1 1/2 Jahren, als er zufällig auf dem Internet auf ein CD-Antiquariat und die Abteilung: "the first Century of Jazz (1900-2000)" gestossen war.

Beim Durchhören einiger Probesamples stiess er auf zwei Pioniere des damals sogenannten Modern Jazz. Es waren dies die beiden Pianisten McCoy Tyner und Herbie Hancock. Die Musik der beiden Herren, obwohl ihm bis anhin völlig unbekannt, faszinierte ihn so sehr, dass er sich die "Complete Recordings of ....." Alben, die gerade im Sonderangebot mit je ca. 150 Titeln zu haben waren, auf seinen lokalen PC herunterladen liess. Mit zwei Hyper-CD's (Fasswert je 15 Gigabyte) wurden die beiden Datenpakete lokal archiviert, so dass die komplett 300 Musiktitel Michel nun jederzeit zur Verfügung standen.

Beim Durchstöbern des üblichen Werbematerials, dass bei jedem Datenpaket automatisch mitgeliefert wird, fiel ihm folgendes Werbeinserat auf:

Als nach mehrmaligem Hineinhören die Faszination nicht nachliess - im Gegenteil - das Komplexe dieser Musik bei ihm bis dahin unbekannte Emotionen erzeugte, entschloss sich Michel S. das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Er hatte sich dieses Jahr in der "Schule" noch nicht auf sein Freifach Kunst und Kultur festgelegt und dieser Jazz-Piano Kursus würde dem Rahmen genügen, der ihm der Lehrplan für das 7. Schuljahr auferlegte. Nach dem er sich bild-telephonisch von seinem Schulkoordinator das OK für den Kursus geholt hatte, (dieser hatte zuerst die "Degree and Certficate-Compatibility" der dazugehörigen Lernsoftware abzuklären) meldete Michel sich via Modem für den Kurs an.

Daraufhin wurden seinem Schulkoordinator die 25 Lektionen Software übermittelt. Dieser wiederum wies die Schulsoftware von Michel (Coordination of Learning) an, die Pianolektionen mit mittlerer Priorität in das tägliche Leben zu integrieren, Über Erfolg und Misserfolg wie bei allen anderen Fächern Buch zu führen und wenn nötig die entsprechenden Massnahmen zu ergreifen.

Gleichzeitig leitete der Schulkoordinator den Mietkauf eines geeigneten Instrumentes ein. In Michels Fall ein: DIGI-STEINWAY Ver. 50/32 Authentic Touch. Nachdem das Instrument eine Woche später nach Hause geliefert wurde, stand einem erfolgreichem Lernen nichts mehr im Weg. Die Lernsoftware liess wirklich keine Wünsche offen. Sie war Full 3D Compatible und hatte Programme integriert, die musikpsychologische und physiognomische Aspekte bei jedem Kind untersuchen konnten. Mit Hilfe der programminternen Didaktik-Bibliothek konnte dann das jeweils richtige Lernmuster für den Übungskandidaten ermittelt und das Musiktraining optimiert werden. Die Lektionen wurden natürlich mit Dokumentarfilmen über den Pianisten und seine Musik wo möglich und nötig unterlegt. Manchmal erschien Mr. Tyner sogar höchstpersönlich in 3D und vermittelte augenscheinlich wichtige technische Aspekte.

Dies alles war vor 1 1/2 Jahren. Michel hatte in dieser Zeit erwartungsgemäss grosse Fortschritte gemacht. Die Übungssoftware hatte bei ihm jedoch überdurchschnittlichen Erfolg gezeigt. Michel S. ist offensichtlich ein pianistisches Talent, so dass das Übungspensum trotz gesteigerter Effizienz von der mittleren zur kleinen Priorität verlegt werden konnte (will heissen: Michel lernte so rasch, dass die Übungszeit zugunsten anderer Fächer verkleinert wurde). Der Schulkoordinator hatte nun die Möglichkeit, Michel freiwillig zu fördern. Er konnte ihm teilweise Zugang zu gesteigerter Lernsoftware im pianistischen Bereich auch in anderen Musikstilen, zum Beispiel Klassik erlauben. Diese zusätzliche Software musste nicht von den Eltern berappt werden, sondern wurde aus einem schulinternen "Fonds fär begabte Spezialisten" bezahlt. Michel war kein Einzelfall. Fast jedes Kind konnte im Rahmen seiner obligatorischen Schulzeit in irgendeinem Fach oder Thema, das besonders seinen Neigungen und Eignungen entsprach, von diesem Fonds profitieren. Es war vor allem die Aufgabe des Schulkoordinators, diese Fähigkeit zu entdecken und das Kind entsprechend zu unterstützen. Auf diese Weise konnte fast jedem Kind schon früh die Möglichkeit gegeben werden, sich für den späteren Eintritt in die leistungsorientierte Berufswelt gewisse Vorteile zu erarbeiten.

Michel war mittlerweile dabei, die 23. Lektion mit den dazugehörigen Tests zu beenden. Nach einer Zeit von 1 1/2 Jahren war dies ziemlich aussergewöhnlich, da der Kurs eigentlich für eine Dauer von 6-7 Semestern ausgelegt war. Bis Ablauf des aktuellen Semesters in etwa 6 Wochen würde er am Ende der letzten Lektion angelangt sein. Michel hatte seine Mutter letzthin sagen hören, dass danach in einem persönlichen Gespräch zwischen ihm, seinen Eltern, dem Schulkoordinator und dem kommunalen Bildungsbeauftragten darüber entschieden werden sollte, ob Michels Ausbildung eventuell zugunsten der Musik und des Pianospiels umgestaltet werden sollte. Dies solle ihm den Einstieg in eine entsprechende Berufskarriere erleichtern.

Doch eigentlich war Michel das im Moment alles ziemlich egal. Er hatte seine Lektionen in Musik und den anderen Fächern beendet und bereitete sich für die Nachmittagsfächer "soziales Leben" und "Sport" vor. Es waren die einzigen Fächer, die ausser Haus, jeweils eine Stunde täglich, stattfanden. Für das Fach "soziales Leben" musste er noch eine kurze Zusammenfassung in seinen TERRA-TECH SCREEN diktieren. Sie hatten gestern in ihrer Kleingruppe über Schulformen der Vergangenheit geredet, über sogenannte "Klassen" mit mehr als 20 Kindern, zusammengepfercht in einen kahlen, apparatelosen Raum, Klassenzimmer genannt, über Stress, Notenstress, büffeln, Tests, nachsitzen und dergleichen.

Dieses Rudel ungehorsamer Schüler wurde von einem "Lehrer" mehr schlecht als recht zusammengehalten und "unterrichtet". Besonders diese letzte Person sich vorzustellen, bereitete Michel einige Mühe. Bei ihm gab es nur noch Schulkoordinatoren und Gruppenbetreuer. Das Wort kam im täglichen Gebrauch nur noch in Schimpfwörtern oder altertümlich wirkenden Filmen vor, die in unangenehmer Weise an eine längst ausgestorbene Berufsgattung erinnerten.


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