Hochschule Luzern - Musik, Abteilung Jazz

Lauren Newton: Was kann die Stimme sonst noch ausser ein paar schöne Melodien singen?


Es ist Hochsaison für Sängerinnen. Sie sind die Stewardessen des Jazz. Aushängeschild für eine Musik, die inzwischen rettungslos dem Business anheim gefallen ist. Die Vorbilder Ella, Carmen, Betty, Peggy und alle andern sind abgetreten. An Jazzakademien auf der ganzen Welt ausgebildet, drängt eine neue Generation ins Rampenlicht. Die Konkurrenz ist unüberschaubar. Wen wunderts, werden Sängerinnen für die CD-Booklets wie Models gestylt und mit einer hochkarätigen, aber oft ratlosen Begleitgruppe getunt. Alles als Bürgschaft für Qualität gedacht.

Lauren Newtons Karriere hat sich nicht in diesem Mainstream entwickelt. Sie sieht sich zwar auch als Performerin und nicht nur als Vokalistin. Als sie anfangs 80-er Jahre nach Europa kam, war sie klassisch ausgebildete Sopranistin, allerdings mit einem familiären Hintergrund, der Experimente und Offenheit mit einschloss. "Ich komme von der Tradition der klassischen Musik her, was meine Ausbildung betrifft, habe aber zu Hause immer Jazz gehört. Mein Vater spielte, um sich seine Ausbildung zum Gesangslehrer zu finanzieren, in Nachtclubs Bass und sang auch. Also lagen zu Hause neben Miles Davis, Oscar Peterson, Ella Fitzgerald mit der gleichen Selbstverständlichkeit die Schallplatten von J.S. Bach, Mozart, Tschaikowsky herum. Ich habe mir das alles angehört so wie mein Vater auch. Ich habe diesen Faden später aufgenommen, als ich während der klassischen Studien abends in einer Jazzband sang. Ich will damit sagen, dass diese Neugier: was kann die Stimme sonst noch machen ausser ein paar schöne Melodien singen, schon immer da war. Als ich dann nach Europa kam, habe ich die bestimmten Menschen getroffen, die genau daran auch interessiert waren; insbesondere an dieser Hinwendung zum Geräuschhaften, zu den Extended Vocal Techniques.“

Bevor sie für zwölf Jahre ihren Platz im Vienna Art Orchestra einnahm, war sie auch auf deutschen und österreichischen Bühnen zu sehen. Damals mit der deutschen Sprache noch nicht so vertraut wie sie es heute ist, findet sie rückblickend doch, die Rollen seien ihr auf den Leib geschrieben gewesen. "In einem Stück in Freiburg i.B. (Aus dem Leben der Insekten‘) war ich eine Puppe, die nie etwas gesprochen, aber immer lustig gesungen hat, und in Die Vögel‘ am Burgtheater in Wien, da war ich die Nachtigall und habe auch nur gesungen. Nachtigallen sind sehr erfindungsreich. Sie haben die ganze Leere der dunklen Nacht für sich.“

Viele Musikfans sind Lauren Newton zum ersten Mal in einem Konzert mit dem Vienna Art Orchestra begegnet. Es war eine Ueberraschung, die Sängerin wie ein musikalisches Instrument eingesetzt zu sehen. Die Frische und Eigenwilligkeit dieser Grossformation, welche die musikalische Handschrift ihres Leiters Matthias Rüegg trug, wurde in beachtlichem Mass von der Bühnenpräsenz Lauren Newtons mitgetragen. Es waren erfolgreiche Zeiten. Und doch gab es für Lauren Newton andere, weiterreichende Ziele. Ihr eigentliches Interesse galt der Welt des freien Improvisierens mit all den Möglichkeiten, die sie für die Entwicklung der Stimme offenliess. In einem jahrelangen und - wie sie sagt - heute noch nicht abgeschlossenen Work In Progress mit der eigenen künstlerischen Persönlichkeit entsteht nun ein Amalgam aus Melodie, Geräusch, Körperpräsenz, einer Prise Humor und Behutsamkeit in der Kommunikation mit den MitmusikerInnen, das für diese eine und einzigartige Künstlerin bezeichnend ist. Damit sind wir bei einem Phänomen, dass für Künstler und Künstlerinnen des Jazz seit jeher zutrifft: dass nämlich das Resultat untrennbar verbunden ist mit der Persönlichkeit des Interpretierenden. Und deswegen auch nicht kopierbar. Lauren Newton ist in bestem Sinne einzigartig.

Vieles reift in der Begegnung mit ebenbürtigen MusikerInnen. Anthony Braxton war rätselhaft und grosszügig zugleich. Bei ihm hat Lauren Newton einen wichtige Erfahrung im Spannungsfeld Freiheit - Ordnung machen können. "Wir haben nur zwei Tage geprobt. Vorgängig hatte Anthony mir ein Riesenpaket Noten geschickt, das mich fast zur Verzweiflung brachte. Als er bei Probenbeginn kurz überlegte, "which instrument should I use?“ (er spielt ja eine Menge Instrumente in verschiedenen Stimmungen) wurde mir erst klar, dass seine Notationen gar nicht absolut zu lesen waren, sondern nur in Intervallen, so wie sie innerhalb einer Skala Gültigkeit haben. Den ersten Tag haben wir damit verbracht einzelne ausgeschriebene Teile aufzunehmen, welche während des Livekonzertes im Hintergrund abgespielt würden. Anschliessend haben wir Teile geübt, wo wir ganz genau zusammen agieren mussten. Ausserdem hatte ich Perkussionsinstrumente, verschiedene Megaphone und einen Richterhammer zu bedienen, und an einem grossen Rad zu drehen, auf dem er seine Nummern- und Buchstabenkombinationen draufgetakkelt hatte. Ich drehte also und stand es still, musste ich die entsprechende Wort-Zahl-Kombination in meine musikalische Aktion miteinbauen. Kurz: eine einziges grosses Puzzlewerk. Es gab aber immer auch Platz für Improvisationen, insbesondere während der Live-Loops, das hört man auf der Aufnahme gut (Anthony Braxton/Lauren Newton, Composition 192, Leo Records 1998): einer hält den Loop und der andere improvisiert. Am Ende des Stücks, nach einer Stunde auf der Bühne, hatte ich mehr Energie als zu Beginn und ich hab dann auch realisiert, dass wir in dieser Zeit nicht mal einen Viertel der Komposition aufgeführt hatten.“

Ganz aktuell ist die CD mit Urs Leimgruber und Joëlle Léandre, zwei der zentralen MusikerInnen der europäischen improvisierenden Szene (Out of Sound mit J. Léandre & U. Leimgruber, Leo Records 2002). Zur Frage, ob Joëlle Léandre am Kontrabass denn auf dieser Produktion auch singe, wie es ihre Gewohnheit ist, meint Lauren Newton schelmisch:“ Schon, aber nur kurz. Sie sagt immer, sie will das nicht, aber ich locke es manchmal aus ihr heraus. Ich finde sie hat eine sehr schöne Stimme.“ Mit besonderem Interesse erwarten dürfen wir die im Mai 2002 erscheinende CD mit Patrick Scheyder (auch bei Leo Records), einem eigenwilligen Pianisten der französischen Szene, der mit Lauren seit vielen Jahren zusammenarbeitet. In der Pendelbewegung vom Geräusch zur Melodie ist für diese Produktion wieder einmal Melodie angesagt, was all jene, die Lauren Newton vorwerfen: Wann singst du denn endlich wieder mal richtig?, erfreuen dürfte: "Die Produktion mit Joëlle und Urs hat mehr mit Geräuschen zu tun, mit dem Innenleben der Musik sozusagen, während die CD mit Patrick aus einem ganz anderen Bereich kommt. Es ist mir erst beim Anhören der Aufnahmen klar geworden, dass die Kombination Klavier / Sopran einfach eine traditionelle Geschichte ist. Während meines Musikstudiums bin ich natürlich solcher Musik begegnet. Die Lieder von Schönberg und Webern hatten es mir damals angetan. Und diese Arbeit mit Scheyder - das sind im Grunde genommen neue Lieder, diese CD ist hauptsächlich Gesang. Patrick Scheyder kommt nicht aus dem Jazzbereich, er improvisiert ganz anders, ganz eigen, ich weiss gar nicht ob ich das gut oder schlecht finde, muss ich ehrlicherweise sagen, weil es mir oft so fremd ist. Aber zusammen haben wir da etwas entwickelt, was eine neue musikalische Aura ergibt.“

Gewiss darf sich die Fakultät III glücklich schätzen, ihren Studentinnen eine Dozentin mit diesem Erfahrungsschatz, dieser künstlerischen Kühnheit und, last but not least, mit diesem pädagogischen Flair anbieten zu können. Obwohl sie für sich persönlich die Songs des Real Book seit geraumer Zeit hinter sich gelassen hat, hat sie das nie als Abkehr verstanden, sondern die Erinnerung an diesen Humus für eine energiegeladene Entwicklung der sängerischen Persönlichkeit bewahrt. Worin kann denn heute noch die didaktische Qualität eines Songs bestehen, der - millionenfach gespielt - einer ausgequetschten Zitrone gleicht? "Ich habe Freude daran zu sehen, wie jemand mit diesem Material umgeht, wie jemand daran wächst. Es ist zwar schon meine Absicht, die Studentinnen möglichst bald auch darüber hinaus zu führen, aber es ist eine gute Basis zum Anfangen. Eigentlich versuche ich Standards auszuwählen, die Tradition haben und neue Möglichkeiten versprechen. Der traditionelle Aspekt, das ist die Bindung an einen Zeitgeist, die 40-er und 50-er Jahre zum Beispiel. Ich versuche zu erklären, woher dieser eigenartige Wortschatz kommt. Natürlich gibt es Studentinnen, die ein wenig frustriert sind, die finden, das sei doch nicht mehr aktuell, worüber sie da zu singen hätten. In diesem Fall ermutige ich sie die Lyrics neu zu schreiben. Es gibt noch andere musikalische Wege: man kann aus manchen Stücken eine Bebop-Improvisation machen; andere kann man neu spielen, indem man für sie eine andere rhythmische Struktur wählt; wieder andere lassen Raum für eine freiere Interpretation. Das American Songbook ist letztendlich lediglich ein Ausgangsmaterial, mit dem man die eigene Stimme, seinen musikalischen Geschmack und die musikalische Persönlichkeit entwickeln kann.“

Zur Schulung gehört also die Behutsamkeit im Umgang mit dem Material und eine Wahrnehmung dafür, was hinter diesen Liedern des 20. Jahrhunderts denn eigentlich steht. Zu Gershwins vielgespieltem Summertime meint Lauren Newton: "Summertime stammt wie viele dieser Songs aus einem Musical und junge Menschen haben in der Regel weder den Film noch eine Aufführung gesehen. Ich habe Porgy and Bess einmal live gesehen und dieses Summertime hat mich so beeindruckt, weil ich zum ersten Mal verstanden habe, worum es eigentlich geht. Da steht diese junge Mutter oben auf dem Balkon und wiegt ihr Kind singend in den Schlaf, auf der Plantage irgendwo im heissen Süden Amerikas, wo Armut herrscht; der Song ist der Versuch, diese Armseligkeit für einen Moment zu vergessen, die Welt für einen Moment ein bisschen schöner zu sehen. Das finde ich ein gutes Beispiel dafür, warum man über solch einen Stoff nicht einfach im up-tempo hinweghuschen sollte.“

Fredi Lüscher, Musiker

Lauren Newton
Geboren in Coos Bay, Oregon, USA. Gesangsdiplome an der University of Oregon (1975) und an der MHS Stuttgart (1977)
1979-1990 Vokalistin des Vienna Art Orchestras. 1983-1999
Zusammenarbeit mit Ernst Jandl (Konzerten und Aufnahmen).Tourneen und Aufnahmen mit Vocal Summit (B.McFerrin, J.Lee, J.Clayton, U.Dudziak). 1983 Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik für die Solo-LP "Timbre" (1998 als CD "Filigree")
Komponistin/Schauspielerin/Sängerin am Stadttheater Freiburg i.B. in "Aus dem Leben der Insekten" (Regie: P. Mikulastik) und am Burg Theater Wien mit "Die Vögel", (Regie: A.Manthey). Sängerin/Schauspielerin im Film "Sissi auf Schloß Gödöllö“ (Regie: C. Frosch)
Seit 1982 mehrmals als Solistin Auftritte und Aufnahmen in Japan mit japanischen MusikerInnen. Seit 1990 kontinuierliche Arbeit mit dem Vokalquartett "Timbre" , seit 1995 mit Joëlle Léandre (b), Fritz Hauser (perc) und Urs Leimgruber (sax)
Musikprojekte, Konzerte, Rundfunk- und CD-Produktionen mit: Jon Rose (comp/v), Hannes Zerbe (comp/p), Patrick Scheyder (p), Vladimir Tarasov (dr), Christy Doran (g), Anthony Braxton (comp/sax), Heiri Kaenzig (b), Paul Lovens (dr.), dem European Chaos String Quintet u.a.
Hörspiele, Kompositionsaufträge und Solistin im Bereich Performance Art und mit TänzerInnen. Auftritte an den bedeutenden Europäischen Festivals sowie in den USA, in Kanada, Moçambique, Indien, Thailand und Japan.
(Im Web unter: http://www.laurennewton.com)


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