Hochschule Luzern - Musik, Abteilung Jazz

Music Talks X - Christoph Stiefel
Hypnose und Wohlklang


Im Rahmen eines Seminars mit dem Titel «Jazz in der Schweiz: Gefängnis oder Paradies» standen drei Dozenten der Jazzabteilung der Hochschule Luzern - Musik Red und Antwort. Der Pianist Christoph Stiefel gab nicht nur eine spannende Einführung in sein isorhythmisches Konzept, sondern stellte auch ein paar seiner Lieblingsalben vor


© R. Camenisch © R. Camenisch

Music Talks
Mit der Gesprächsserie “Music Talks” lädt die Jazzabteilung der Hochschule Luzern ein zu facettenreichen Begegnungen mit profilierten Persönlichkeiten des Gegenwartsjazz. Die Gespräche drehen sich nicht nur um den Werdegang und das künstlerische Schaffen dieser Persönlichkeiten: Anhand von Tonbeispielen sollen auch persönliche musikalische Vorlieben diskutiert werden. Die Frage nach den Zukunftsperspektiven des Jazz soll ebenfalls aufs Tapet gebracht werden. Die Gespräche werden geführt von Tom Gsteiger, Journalist und Dozent für Jazzgeschichte.

In Zusammenarbeit mit:
Musik-Forum Luzern

Obwohl sich der Pianist Christoph Stiefel (geboren 1961, seit 1998 Dozent in Luzern) mit der Isorhythmik einer Kompositionstechnik aus dem Mittelalter bedient, würde sich seine dem Wohlklang durchaus nicht abgeneigte Musik, die über weite Strecken von hypnotischen Grooves vorwärtsgetrieben wird, kaum als Soundtrack für einen Film über Hildegard von Bingen eignen. Stiefel nimmt eine uralte Idee und macht etwas Neues daraus, sein Inner Language Trio mit dem Bassisten Thomas Lähns und dem Schlagzeuger Marcel Papaux gehört zum Spannendsten, was der Piano-Trio-Jazz zur Zeit zu bieten hat: konzeptionell kühn und doch zugänglich.
Die Auseinandersetzung mit Rhythmus und das Komponieren seien schon immer seine Hauptinteressen gewesen, sagt Stiefel - und fügt hinzu: «Ich muss viel Klavier üben, um meine Stücke spielen zu können. Ich komponiere nicht das, was ich spielen kann, sondern das, was ich spielen will.» Die Isorhythmik hat Stiefel für sich vor ungefähr zwanzig Jahren entdeckt. Die positive Reaktion sowohl des Schlagzeugers Peter Erskine, der bei der Einspielung von Stiefels erster isorhythmischer Komposition («Sweet Paradox») dabei war, als auch des Publikums hat ihn beflügelt: «Darum bin ich drangeblieben. Zuerst dachte ich, dass das sowieso niemand schnallt.» Für seine erste Solo-CD mit Isorhythmen benötigte Stiefel gut ein Jahr Vorbereitsungszeit. Inzwischen besteht Stiefels Repertoire vornehmlich aus Isorhythmik-Stücken. (Die 1997 veröffentlichte CD «Sweet Paradox» ist vergriffen, d.h. nur noch im Second-Hand-Handel aufzutreiben)

Exkurs zur Isorhythmik

Auf Stiefels Webpage wird man in das Geheimnis der Isorhythmik eingeweiht, u.a. erfahren wir dort: «Mit Isorhythmen gearbeitet respektive komponiert wurde zum ersten Mal in der Renaissance (Ars Nova). Gleiche (Iso=gleich auf griechisch) Rhythmen werden dabei mit verschiedener Melodik kombiniert, wobei sich dadurch für den Hörer absolut ungewohnte rhythmische wie auch melodische Ueberlagerungen der verschiedenen Ebenen ergeben. (...) Die Grundidee von Stiefels isorhythmischem Konzept liegt darin, dass mittels sich variierenden rhythmischen Sequenzen, die über mehrere Takte hinweg einen (spürbaren, aber nicht gespielten) Grundrhythmus überlagern, eine interessante Spannung erzeugt werden kann. Diese Überlagerungen werden ihrerseits in der Improvisation durch gegenläufige rhythmische Phrasen nochmals überlagert. Die rhythmischen Muster und Motive werden melodisch so gestaltet und variiert, dass der Hörer die rhythmischen Ereignisse auf verschiedene Arten wahrnehmen und interpretieren kann, ja er wird sogar manchmal absichtlich in die Irre geführt: Je nach Akzentuierung der verschiedenen Ebenen nimmt der Hörer den rhythmischen Fluss der verschiedenen Überlagerungen als einen sich dauernd ändernden Rhythmus wahr, obschon in Wahrheit der Grundrhythmus einer Komposition meist gleich bleibt. Dieser daraus resultierenden rhythmischen Spannung werden klare, melodiöse Themen gegenübergestellt, eingebettet in eine moderne, dem Jazz nahestehende Harmonik».

Langer Prozess

Stiefel gibt zu bedenken, dass es nicht einfach sei, solche Stücke über das Stadium einer rhythmischen Übung hinaus zu entwickeln - von der Grundidee bis zur Realisierung mit dem Trio können durchaus zwei Jahre vergehen. «Fürs Schlagzeug schreibe ich selten einen Groove auf. Marcel Papaux braucht lange, bis er die Stücke intus hat, aber wenn es dann mal soweit ist, spielt er einfach grossartig - er hat ein tolles Gespür für Orchestrierung und Sound. Beim Bass ist mehr vorgegeben, weil er häufig mit meiner linken Hand korrespondiert; im neuen Programm hat allerdings auch der Bass mehr Freiraum», führt Stiefel aus. Die Musik des Inner Language Trio entwickelt sich also evolutionär, schrittweise - für Stiefel ist klar: «Ich brauche Musiker, die bereit sind, relativ viel zu proben. Meine Aufgabe als Bandleader besteht darin, das komplexe Konzept der Isorhythmik unter einen Hut zu bringen mit dem Bedürfnis der Jazzmusiker nach spontanem Interplay - es hängt alles davon ab, wie gut wir ein Stück kennen. In den Improvisationen beziehen wir uns immer aufs Grundmetrum, vom Gefühl her ist es gar nicht so viel anders, wie wenn man einen Standard sehr offen spielt.»

Impressionismus und Expressionismus

Zum Thema Standards sagt Stiefel: «Ich selbst stehe total auf Standards, aber einen Standard nehme ich nur dann auf, wenn ich das Gefühl habe, etwas Eigenes damit anfangen zu können. Im Lernprozess haben Standards eine grosse Bedeutung, aber danach ist die Messlatte doch sehr, sehr hoch.» In seinen mit einem feinen dramaturgischen Sinn ausgearbeiteten isorhythmischen Stücken deckt Stiefel ein weites Feld ab - zauberhafter Impressionismus und virtuoser Expressionismus halten sich auf überzeugende Weise die Waage. Stiefel hat in zweierlei Hinsicht dafür vorgesorgt, dass die trickreichen rhythmischen Verschiebungen und Überlagerungen nicht wie feinmechanische Fingerübungen daherkommen: Einerseits bindet er sie in attraktive melodische und harmonische Verläufe ein, andererseits lässt er durchaus improvisatorischen Überschwang zu. Die Musik seines Trios ist eben nicht nur ein rhythmisches Vexierspiel, sondern auch ein sinnliches Hörvergnügen. Es kann sogar vorkommen, dass Stiefel sein Faible für schöne Melodien gegen den Widerstand seiner Mitmusiker verteidigen muss - als konkretes Beispiel für ein Stück, das zuerst einmal auf Opposition stiess, nennt er «Inner Language».

Papaux und Lähns

Zur lebendig-lustvollen Umsetzung seiner alles andere als einfachen Vorgaben ist Stiefel auf Musiker angewiesen, die sich nicht so leicht aus der Bahn werfen lassen und trotzdem Risiken eingehen. Thomas Lähns, der zwischen den Alben «Inner Language Trio» (2008) und «Fortuna’s Smile» (2010) Patrice Moret ersetzte, hat bereits in der Zusammenarbeit mit den Gebrüdern Arbenz bewiesen, dass er fähig ist, eine Band selbst dann zusammenzuhalten, wenn gleichzeitig unterschiedliche Fliehkräfte auf sie einwirken. Und Marcel Papaux ist ein variantenreicher Instinkt-Schlagzeuger mit Schalk im Nacken, der sich auf manchmal ziemlich unberechenbare Weise zwischen Präzision und Entfesselung bewegt und jeden Groove zum Swingen bringt. Stiefel spielt sich in seinen improvisatorischen Exkursen weder um Kopf und Kragen, noch stirbt er in Schönheit, sondern er entwickelt seine Ideen im Spannungsfeld zwischen formaler Klarheit und spontaner Emphase.

Viel Lob

Reihum sammelt Stiefel viel Lob für seine innovative und doch zugängliche Trio-Musik - aus der Flut der positiven Rezensionen seien hier zwei Beispiele aus deutschen Jazzmagazinen herausgegriffen. Im Jazzthing vom April 2010 lesen wir: «Der Variantenreichtum von Stiefels Musik ist immens, und die rhythmischen Verschiebungen, die sie kaleidoskopartig immer wieder neu strukturieren, wirken niemals maschinell, sondern wie ein atmender Organismus.» Und einen Monat vorher hielt man in Jazzthetik fest: «Das Inner Language Trio spricht Jazz wie eine Muttersprache - wohl mit einem eigenen Dialekt, aber akzentfrei.»

Mehrere Umwege

Zum Jazz kam Stiefel über mehrere Umwege. Zuerst genossen er und seine drei Geschwister konventionellen Klavierunterricht, dann entdeckte er für sich Boogie Woogie und Blues. Mit eigenen Bands spielte er Rock, Rhythm’n’Blues und Rock-Jazz - mit der Band Stiletto, zu der auch der fulminante Schlagzeuger Jojo Mayer gehörte, hatte er relativ grossen Erfolg. Mit dem Harfen-Engel Andreas Vollenweider war Stiefel fünf Jahre fast ununterbrochen auf Welttournee - als Keyboarder war er damals, im Alter von 22 Jahren, hauptverantwortlich für den Sound der Band. «Erst mit 40 habe ich dann gewusst: Jazz ist für mich die spannendste Musik, die es gibt - da trifft sich der Moment mit der geschriebenen Musik. Aber mich interessiert nur derjenige Jazz, wo es eigentlich um Emotion geht - mit Abstraktion alleine kann ich nichts anfangen.»

Amerika und Europa

Zu Stiefels Favoriten zählen mit Keith Jarrett und Brad Mehldau zwei Pianisten, die man kaum näher vorzustellen braucht. Das persönliche Jarrett-Highlight Stiefels ist der einzige Standard, den dieser 1967 mit Charlie Haden (Bass) und Paul Motian (Schlagzeug) für sein Debütalbum «Life Between The Exit Signs» aufnahm: «Everything I Love» von Cole Porter. «Ich habe zehn Jahre lang Jarrett richtiggehend eingesogen, aber irgendwann habe ich dann gefunden: Es reicht. Jarretts Pianistik und seine Hingabe an den Moment sind unglaublich, aber konzeptmässig gibt es spannendere Sachen. Man macht sich nicht glücklich, wenn man versucht, Jarrett zu kopieren», hält Stiefel fest. Als Lieblingsalbum von Mehldau nennt Stiefel das live im Village Vanguard eingespielte Volume 2 von dessen Reihe «The Art of the Trio» mit Larry Grenadier (Bass) und Jorge Rossy (Schlagzeug). «Alles, was Jazz ausmacht, ist auf dieser CD zu finden», sagt Stiefel über die Trio-Einspielung «East Coast Love Affair» des Gitarristen Kurt Rosenwinkel - und fügt hinzu: «Die CD ist eigentlich total unspektakulär, es ist kein virtuoses Abdrücken. Aber jede Linie hört nicht irgendwo auf, sondern geht genau dorthin, wo sie hinmuss. Wenn ich diese CD gehört habe, geht es mir gut.» Als aktuelle Lieblingsband nennt Stiefel das Quartett des Saxofonisten Wayne Shorter: «Aber nicht auf CD, sondern live.» Alles in allem findet er allerdings, dass zur Zeit in Europa die spannenderen Dinge passieren als in den USA - als herausragende Beispiele für eigenständige europäische Jazzmusiker nennt er mit dem Norweger Jon Balke und dem Engländer Django Bates zwei Keyboarder, deren Ansätze kaum unterschiedlicher sein könnten.

www.christophstiefel.ch

Tom Gsteiger


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