Hochschule Luzern - Musik, Abteilung Jazz

Music Talks XIII - Kurt Rosenwinkel
Improvisation als Fortsetzung des kindlichen Spieltriebs


Rechtzeitig zur Jahrtausendwende veröffentlichte Kurt Rosenwinkel mit «The Next Step» ein Album, dessen Einfluss auf den Gegenwartsjazz nicht genug hoch eingeschätzt werden kann. Für einen Workshop kehrte der US-Gitarrist, der sich inzwischen in Berlin niedergelassen hat, nach Luzern zurück, wo er früher als Dozent tätig war. Im MusicTalk schilderte er u.a. seinen Weg zum Jazz und seinen neugierigen, unverkrampften Umgang mit der Tradition.


Nils Wogram

Music Talks
Mit der Gesprächsserie “Music Talks” lädt die Jazzabteilung der Hochschule Luzern ein zu facettenreichen Begegnungen mit profilierten Persönlichkeiten des Gegenwartsjazz. Die Gespräche drehen sich nicht nur um den Werdegang und das künstlerische Schaffen dieser Persönlichkeiten: Anhand von Tonbeispielen sollen auch persönliche musikalische Vorlieben diskutiert werden. Die Frage nach den Zukunftsperspektiven des Jazz soll ebenfalls aufs Tapet gebracht werden. Die Gespräche werden geführt von Tom Gsteiger, Journalist und Dozent für Jazzgeschichte.

In Zusammenarbeit mit:
Musik-Forum Luzern

Für Kurt Rosenwinkel sind es nicht so sehr klare musikalische Parameter, die den Jazz von anderen Musikarten unterscheiden: «Jazz ist sehr formbar, anpassungsfähig. Ein Jazzmusiker kann im Grunde genommen mit jedem Einfluss etwas anfangen - andere Musiker können dies nicht. Als Jazzmusiker muss man genau wissen, wie Musik funktioniert, damit man auf eine freie, assoziative Weise mit den Grundlagen der Musik - Harmonie, Rhythmus etc. - umgehen kann. Ein gut geschultes Gehör ist dafür unerlässlich.» Später im Gespräch skizziert Rosenwinkel dann allerdings doch so etwas wie einen essenziellen Zusammenhang zwischen Louis Armstrong und Ornette Coleman: «Beide swingen. Beide improvisieren über Strukturen. Und auch Ornette Coleman bezieht sich auf Harmonie, aber in revolutionärer Manier. Er liefert den Beweis: Klang ist wichtiger als Theorie. Aber das wusste ja auch schon Duke Ellington.»

Keine Frage: Die Jazztradition liegt Rosenwinkel am Herzen - d.h. allerdings mitnichten, dass er ein verbohrter Traditionalist ist. Im Gegenteil: Er bezeichnet seinen Musikgeschmack als ziemlich eklektisch und meint, gute Musik könne man überall finden. So bekundet er zum Beispiel keine Mühe damit, hintereinander einen Modern-Jazz-Track mit Booker Little und Eric Dolphy und einen Pop-Song der Beach Boys abzuspielen. Was sucht Rosenwinkel in der Musik? Als Antwort liefert einen mäandernden Diskurs, der um die Stichworte depth, soulfulness, spirit und imagination kreist - es geht ihm also darum, eine Welt hinter den Noten zu spüren. Virtuosität an und für sich interessiert ihn nicht: Wenn diese nicht in den Dienst von Ausdruckskraft gestellt wird, ödet sie ihn sogar an.

Sowohl als Gitarrist als auch Bandleader fährt Rosenwinkel doppelspurig: In diversen Trios mit Bass und Schlagzeug pflegt er vornehmlich das Standards-Repertoire, mit Quartett- und Quintett-Formationen spielt er Eigenkompositionen. Die Standards - seien dies nun Stücke aus dem «Great American Songbook» oder kanonisierte Jazz-Tunes von Monk, Shorter & Co. - bilden gemäss Rosenwinkel das Grundgerüst des Jazz: «Standards zu spielen ist eine gute Methode, um herauszufinden, welchen Ansatz, welche Ästhetik man verfolgen will. Wenn man sich mit Standards befasst, setzt man sich unweigerlich dem Vergleich mit allen grossartigen Musikern, die vor einem gekommen sind, aus - da kann man sich nicht so einfach aus der Affäre ziehen. Wenn man nur eigene Sachen macht, kann sich eine gewisse Selbstzufriedenheit einstellen.» Auf die Bitte, eine seiner liebsten Standards-Aufnahmen zu präsentieren, spielt Rosenwinkel Eric Dophys unbegleitete Altsax-Version von «Tenderly» ab und kommentiert: «Der Klang ist so stark und wunderschön. Dolphy ist so frei und doch hört man ganz klar einen Bezug zum Song.» Direkt im Anschluss an Dolphy lässt er als Folge einer spontanen assoziativen Eingabe noch Cannonball Adderleys Version von «Fiddler on the Roof» laufen.

Nun zählt Rosenwinkel zu der Sorte von Jazzmusikern, deren Einfluss weit über instrumentaltechnische und improvisatorische Aspekte hinausgeht. Man übertreibt nicht, wenn man seine im Jahre 2000 veröffentlichte CD «The Next Step» als Schlüsselalbum für eine ganze Generation junger Jazzmusiker bezeichnet: Eine derart gelungene Kombination aus komplexen, ungewöhnlichen Formen, neuartiger Harmonik, vertrackten Grooves und kontrolliert-entfesselter Interplay-Intensität hatte man zuvor in dieser Art noch nie gehört. Wie Rosenwinkel ausführt, war «The Next Step» einerseits das Resultat einer langjährigen Bandentwicklung und andererseits einer persönlichen künstlerischen Krise. Doch der Reihe nach. Das Quartett, das auf «The Next Step» zu hören ist, wurde von Rosenwinkel nach seiner Studienzeit in Berklee ins Leben gerufen, bestand aus ihm, Mark Turner (Tenorsax), Ben Street (Bass) und Jeff Ballard (Schlagzeug) und hatte ab 1994 einen «weekly gig» im Jazzclub Smalls in New York.

Und die Krise? Rosenwinkel nimmt den Faden auf: «Irgendwann fing ich an, beim Spielen zu viel zu denken und es wurde zu theoretisch. Also sabotierte ich meine Kenntnisse des Griffbretts, indem ich die Gitarre neu stimmte. Dazu benutzte ich die Zen-Methode, einige Saiten stimmte ich nach oben, einige nach unten. Dann schrieb ich Stücke, die auf dieser neuen Stimmung basierten und um diese Stücke spielen zu können, musste ich die neue Stimmung studieren. Auf «The Next Step» sind diese Stücke zu hören.» Das sei ganz generell das Schwierigste im Leben, tapfer genug zu sein, um die alten Formen zu zestören, um danach aus dem Chaos etwas Neues zu machen, hält Rosenwinkel fest. Sein Interesse für Harmonik habe er sozusagen von seinem Vater geerbt, sagt Rosenwinkel: «Ich habe ihm dabei zugehört, wie er auf dem Klavier improvisierte.» Überhaupt sei das Interesse in Philadelphia, wo er 1970 auf die Welt kam und aufwuchs, sehr ausgeprägt gewesen.

Rosenwinkels Weg zum Jazz verlief nicht geradlinig, aber irgendwie typisch für einen jungen urbanen Typen seiner Generation. Zur Musik kam er dank KISS: «Ich wollte auch Blut spucken und Feuerwerk abbrennen.» Zur Gitarre kam er dank den Beatles. Nach einer Hardrock-Phase entdeckte er das kanadische Progressive-Rock-Trio Rush, die eine Zeitlang zu einer richtigen Obsession und schliesslich zur Einstiegsdroge für Electric-Jazz und Fusion wurde. «Mit etwa 15 hörte ich Spyro Gyra am Radio. Das war ein grosser Schritt für mich. Zum ersten Mal war ich mit einer Band konfrontiert, in der richtig improvisiert wird», führt Rosenwinkel zur Fortsetzung seiner musikalischen éducation sentimentale aus. Weiter gings mit den Gitarristen Steve Khan, John Scofield, Bill Frisell und Pat Metheny: «Das brachte meine Welt endgültig zum Explodieren.» Dank eines Plattengeschenks seiner Mutter entdeckte er schliesslich auch noch traditionellere Spielformen des Jazz und ein Independent-Radio-Sender machte ihn mit der wilden Avantgarde (später Coltrane, Sun Ra etc.) vertraut.

Die starke Faszination für die Improvisation, erklärt Rosenwinkel folgendermassen: «Ich habe immer eigene Songs geschrieben - für mich war es also ganz natürlich, selber etwas zu erfinden. Und in der Improvisation geschieht dies in Echtzeit und damit ist ein Gefühl von Abenteuer verbunden. Für mich ist die Musik eine Fortsetzung oder Umwandlung des kindlichen Spieltriebs. Kinder bekunden keine Mühe damit, sich Dinge vorzustellen - in ihrer Phantasie sind sie mal tollkühne Bergsteiger, mal Boxer ... In der Musik kreiert man ebenfalls eine ganz und gar eigene Welt.» Aber wie erhält man sich diese ursprüngliche Kreativität, wenn man eine stark akademisierte Ausbildung durchläuft? «Das Problem der Jazzschulen besteht darin, dass sie den Stoff kodifizieren müssen - es geht gar nicht anders. Jazz ist eine sehr komplexe Musik, die zu einem grossen Teil in wissenschaftlicher Manier studiert werden muss. So besteht die Gefahr, dass die Studierenden sich nur auf diese intellektuellen Dinge konzentrieren und den Rest, das Zusammenspiel mit anderen Musikern sowie die intensive Auseinandersetzung mit dem Instrument, vernachlässigen.» Und wie kann man diese Gefahr bannen? «Man muss für sich selber eine Balance finden. Als ich in Berklee studierte, gab es viele Dinge, die ich ablehnte bzw. mit denen ich mich einfach nicht auseinandersetzte.» Und dann hat Rosenwinkel noch eine eindrückliche Metapher parat: «Goldfische fressen alles Futter, das man ins Aquarium wirft - bis sie sterben. Schulen liefern ständig neues Futter und da ist es wichtig, dass sich die Studierenden nicht wie Goldfische verhalten.»

www.kurtrosenwinkel.com

Tom Gsteiger


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