Hochschule Luzern - Musik, Abteilung Jazz

Music Talks IX - Gerry Hemingway
Ich war dumm genug und habe einfach immer weitergemacht


Man kennt Gerry Hemingway in erster Linie als vielseitigen, interaktiven und ausserordentlich klangsensiblen Schlagzeuger in progressiven Jazz- und Impro-Ensembles. Dass sich die Interessen des 1955 geborenen Amerikaners, der im Herbstsemester 2009 zum Lehrkörper der Jazzabteilung der Hochschule Luzern - Musik stiess, noch auf ganz andere musikalische Gebiete (inklusive Country und Cage!) erstrecken, hat einem der MusicTalk mit ihm deutlich vor Ohren geführt. Obwohl er sich als Gestalter spontaner Musik voll und ganz dem Moment auszuliefern versucht, ist Hemingway ein in historischen Kategorien denkender Künstler, der den Dingen gerne auf den Grund geht.


Gerry Hemingway

Music Talks
Mit der Gesprächsserie “Music Talks” lädt die Jazzabteilung der Hochschule Luzern ein zu facettenreichen Begegnungen mit profilierten Persönlichkeiten des Gegenwartsjazz. Die Gespräche drehen sich nicht nur um den Werdegang und das künstlerische Schaffen dieser Persönlichkeiten: Anhand von Tonbeispielen sollen auch persönliche musikalische Vorlieben diskutiert werden. Die Frage nach den Zukunftsperspektiven des Jazz soll ebenfalls aufs Tapet gebracht werden. Die Gespräche werden geführt von Tom Gsteiger, Journalist und Dozent für Jazzgeschichte.

In Zusammenarbeit mit:
Musik-Forum Luzern

Nach den Eigenheiten des Jazz befragt, weist Gerry Hemingway auf das enge Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv hin. Tatsächlich wäre die Evolution des Jazz, die gemäss Hemingway äusserst schnell verschiedene Phasen durchlief, ohne die Verschränkung individueller Geistesblitze mit kollektiven Lernprozessen undenkbar. Hemingway nennt als Beispiel den Bebop: Dieser wurde nicht von einem einsamen Genie in einem stillen Kämmerchen ersonnen, sondern entstand aus dem Ideenaustausch zwischen gleichgesinnten Musikern während nächtelangen Jam-Sessions.

Die osmotische Dynamik zwischen individueller Brillanz und Gemeinschaftlichkeit ist auch ein prägendes Merkmal bahnbrechender Jazzensembles und lässt sich nicht zuletzt an der Rolle, die die Schlagzeuger in diesen Gruppen spielen, ablesen. Man denke zum Beispiel an die eleganten und spritzigen rhythmischen Boxkämpfe zwischen Charlie Parker und Max Roach, an den polyrhythmischen Furor, mit dem Elvin Jones das John Coltrane in überirdische Sphären vorantrieb, an die tollkühnen Überraschungsmanöver, die Tony Williams im Miles Davis Quintet anzettelte, oder daran, wie Paul Motian im Laufe der 1960er-Jahre den Beat in den Trios von Bill Evans, Paul Bley und Keith Jarrett immer mehr abstrahierte.

Bewegen wir uns in der Jazz-Evolution weiter Richtung Gegenwart, treffen wir früher oder später unweigerlich auf Gerry Hemingway, dem nur schon alleine durch seine langjährige (1983-94) kongeniale Mitarbeit im Quartett des Visionärs Anthony Braxton (mit der Pianistin Marilyn Crispell und dem Bassisten Mark Dresser) eine herausragende Position unter den Avantgarde-Schlagzeugern sicher ist. Im Begleittext zum Live-Album «Demon Chaser», das Hemingway 1993 mit seinem Quintett, zu dem damals Michael Moore (Altsax, Klarinette, Bassklarinette), Walter Wierbos (Posaune), Ernst Reijseger (Cello) und Mark Dresser gehörten, aufnahm, stellt Brian Morton die Frage: «And would Anthony Braxton’s asthonishing palimpsest effects ever have taken the necessary step beyond the post-bop abstractions he got from Barry Altschul if he had never met Gerry Hemingway?» Die Antwort liegt auf der Hand.

Umgekehrt hat natürlich auch Hemingway enorm von der Zusammenarbeit mit Braxton profitiert - die Konfrontation mit Braxtons hochkomplexen Werken verlieh ihm unzählige Impulse, die er nicht nur als Schlagzeuger, sondern auch als Komponist, Konzepter und Bandleader bzw. Mitglied in kooperativen Gruppen äusserst fruchtbar zu verarbeiten verstand. Die langlebigste dieser kooperativen Gruppen entstand noch vor Hemingways Zeit bei Braxton: Das Trio BassDrumBone, das durch den Posaunen-Tausendsassa Ray Anderson, der noch vor Hemingway mit Braxton spielte, und den Bassisten Mark Helias vervollständigt wird, wurde 1977 ins Leben gerufen und tritt nach wie vor sporadisch auf. Man hat die äusserst lustvolle Musik von BassDrumBone auch schon als «Avantgarde-Dixieland» bezeichnet, womit zumindest eine Facette ihres facettenreichen Schaffens ziemlich genau getroffen ist.

Doch BassDrumBone ist beileibe nicht die einzige kooperative Gruppe (Trios und Duos), in der Hemingway aktiv ist, wie sich bei einem Blick auf die Startseite seiner äusserst umfangreichen und informativen Homepage schnell eruieren lässt. Nicht nur aus lokalpatriotischen Gründen sei hier das wunderbare Trio WHO herausgegriffen, das sich seit Hemingways Umzug nach Luzern aus Musikern rekrutiert, die alle in der Schweiz wohnen. Die Zusammenarbeit von Hemingway mit dem Genfer Pianisten Wintsch und dem Berner Bassisten Oester geht aufs Jahr 1998 zurück (zuvor hatten Wintsch und Hemingway bereits im Trio mit dem Cellisten Martin Schütz gespielt). Seither sind vom WHO Trio vier Alben erschienen - zuletzt «Less Is More», auf dem «Instant Compositions» im Vordergrund stehen, also Stücke, die gemeinsam aus dem Moment heraus kreiert wurden.

Lyrische Abstraktion, klangliche Transparenz, rituelle Repetitionen und mysteriöse Melodien sind prägende Merkmale der Musik des WHO-Trios, wobei der Detailarbeit ebenso viel Beachtung geschenkt wird wie der Gestaltung langer Spannungsbögen (die zwei längsten Stücke auf «Less Is More» dauern 13 respektive 15 Minuten). Dass der Bandsound seit der Auseinandersetzung mit diversen französischen Chansons, wie sie auf den CDs 2 und 3 der Gruppe - «Open Songs» und «The Current Underneath» - dokumentiert ist, wärmer und runder geworden ist, ist wohl keine Illusion (auf «The Current Underneath» ist auch noch das traurige Lied «Mir mag halt niemer öppis gunne» aus der Niederdorf-Oper zu hören). Hier haben drei Individualisten, die mit kontrollierter Leidenschaft ans Werk gehen, zu einer unteilbaren und doch vielgestaltigen Einheit zusammengefunden. Wintsch, Hemingway und Oester entwickeln den Piano-Trio-Jazz auf zugleich subtile und subversive Weise weiter.

Für den MusicTalk hatte Hemingway Musikausschnitte zu verschiedenen Aspekten seines Schaffens vorbereitet und diese jeweils mit Beispielen für Inspirationsquellen verknüpft - da er die abgespielten Stücke sehr umfangreich zu kommentieren pflegte, konnte letztlich nur ein Bruchteil seiner Playlist berücksichtigt werden. Obwohl Hemingway selbst auch der Meinung ist, dass er am meisten mit der Rolle als interaktiver Schlagzeuger in progressiven Jazzgruppen identifiziert wird, blieben die Beispiele dafür auf der Strecke. Und so muss die Frage, welche Zusammenhänge zwischen eigenen Aufnahmen (Quintet, BassDrumBone, WHO) und so unterschiedlichen historischen Vorläufern wie Jabbo Smith, Ornette Colemans «Free Jazz», Jimmy Giuffres «Free Fall» und Warne Marsh für Hemingway wichtig sind, auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden.

Für Hemingway war es weder möglich noch wünschenswert, seine unstillbare musikalische Neugierde auf einen Bereich einzugrenzen. Dass er dort gelandet ist, wo er gelandet ist, hat zum einen mit einer glücklichen Verknüpfung der Zeitumstände zu tun, zum anderen mit seiner Entdeckungsfreude und Hartnäckigkeit - lachend meint er: «Ich war dumm genug und habe einfach immer weitergemacht.» Gerry Hemingway kam 1955 in New Haven, Connecticut, auf die Welt und wuchs in behüteten suburbanen Verhältnissen auf. Nachdem er im Auto einer schwarzen Hausangestellten, die ihn in die Schule chauffierte, Rhythm’n’Blues gehört hatte, wollte und bekam er ein eigenes Radio, um seine Musiksucht zu befriedigen. Es folgte einer Phase als vergifteter LP-Sammler, wobei ihn insbesondere die kunterbunt-psychedelischen Covers der Flowerpower-Rock-Ära magisch anzogen. Ein älterer Bruder brachte ihm mit Berios «Visage» die Elektronische Musik näher, worauf er mit billigen Apparaten zu experimentieren begann. Später sollte er eigene Aufnahmen, die auf Tapes mit Schlagzeug-Sounds basieren, herausbringen - beim MusicTalk beleuchtete er Zusammenhänge zwischen diesen Aufnahmen und John Cages «Williams Mix» aus dem Jahr 1952. Zum Ordnen seiner Tapes stand Hemingway ein Loft eines befreundeten Musikers zur Verfügung: Mehrere Monate lang war er dort mit dem Zerschnipseln, Klassifizieren und Zusammenkleben der Bänder beschäftigt.

Dank der Eliteuniversität Yale war das kulturelle Klima in New Haven alles andere als provinziell. Noch nicht volljährig besuchte Hemingway ein Rockkonzert nach dem andern, wobei es ihn so nahe an die Bühne wie möglich heranzog. Seine ersten Vorbilder als Schlagzeuger waren Keith Moon, Ginger Baker und Mitch Mitchell. Dass seine Eltern sein stundenlanges Getrommel, das für ihn anfänglich «mehr Frustabbau als etwas anderes» war, tolerierten, hält er im Rückblick für erstaunlich. Zum Jazz kam Hemingway dann während der College-Zeit wiederum durchs Radio. Eines Abends schlich er sich verbotenerweise vom Campus und fuhr mit ein paar Kollegen nach New York, um dort im Club Slugs einen Auftritt von Elvin Jones zu erleben: «Ich wusste damals noch nicht, dass Jones mit Coltrane gespielt hatte.» Um dem Mysterium des Jazz näher zu kommen, las er die Zeitschrift Down Beat und Bücher von Leroj Jones (alias Amiri Baraka) und A.B. Spellman. Hemingway spricht von einem «totalen Abenteuer» und einer «sehr schnellen Navigation durch die Jazzgeschichte».

Mit einem Inserat in der Rock-Postille Rolling Stone suchte Hemingway schliesslich im Alter von 17 Jahren einen Pianisten und einen Bassisten, um «Jazz à la Chick Corea und Keith Jarrett» zu spielen. So kam er in Kontakt mit dem Pianisten Anthony Davis, den er damals mehr durch seine LP-Sammlung als durch sein Spiel beeindruckt habe - später komponierte Davis u.a. zwei Opern, an deren Einspielung Hemingway mitwirkte. Nach Davis lernte Hemingway mit George Lewis und Leo Smith zwei weitere wichtige Masterminds der afro-amerikanischen Avantgarde kennen, wobei er Letzteren als wichtigen Mentoren bezeichent: «Mit ihm konnte man sich praktisch im selben Atemzug über King Oliver, Harry Partch, Peking-Oper, den Rosenkreuzerorden und Gesundheitsdiäten unterhalten.» Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass es Hemingway als Student nicht lange an der Berklee-Schule aushielt. Dass er dann selbst doch Dozent wurde, stellt für ihn keinen Widerspruch dar: «Die Situation hat sich total verändert. Wir haben neue Wege gefunden, um Informationen zu sammeln und an zukünftige Generationen weiterzugeben. Es geht darum, gemeinsam herauszufinden, wohin die Reise gehen soll. Ich sehe meine Rolle darin, viele verschiedene Türen zu öffnen und Geschichten mit anderen zu teilen. Geschichten sind sehr wichtig.» Beim MusicTalk hat Hemingway mit einer Mischung aus Leidenschaft und Akribie klar gemacht, dass er als Türöffner eine Idealbesetzung ist: Er verfügt er über einen ausserordentlich pluralistischen Musikgeschmack. Hemingway ist eben beileibe nicht nur ein grossartiger Schlagzeuger, sondern u.a. auch ein Sammler von Country-Rariäten und ein Fan der Sängerin Ani DiFranco - und so verleitete ihn eine Carte Blanche des Labels Between the Lines zur Produktion des Albums «Songs», mit dem er die Bedeutung des Worts Songwriter auf faszinierende Weise erweiterte.

www.gerryhemingway.com

Tom Gsteiger


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