Hochschule Luzern - Musik, Abteilung Jazz

KRATZEN AM LACK - EINE POLEMIK ÜBER KRITIK UND KRITIKER


von Meinrad Buholzer


Dukes dreht sich um, entsicherte seine
Glock 17 Automatic und gab einen einzigen
Schuss auf das schwarzlackierte Holz,
genau in die Mitte des Namensschilds Yamaha,
ab. Das Klavierspiel brach plötzlich mitten
in einem lauten und drängenden Finale ab.
"Guter Schuss", sagte Richardson.
"Danke."
"Aber Sie haben ihren Beruf verfehlt. Mit
der Treffsicherheit hatten Sie Kritiker
werden sollen."

in Philip Kerr: "Game Over"

I

Als ich den Pianisten Cecil Taylor zum ersten Mal hörte, verschlug es mir die Sprache; es war der Durchbruch in eine neue Dimension. Damit stehe ich nicht allein. Irene Schweizer wollte nach ihrer ersten Begegnung mit Taylor das Klavierspielen an den Nagel hängen; kam aber zum Glück wieder davon ab. Ich habe Taylor darauf angesprochen: "Sprachlos?", meinte er. "Das war ich früher auch, wenn ich zu spielen aufhörte. Etwa acht, neun Jahre lang dauerte dieser Zustand, dass ich nach dem Konzert für eine Weile nicht sprechen konnte. (...) Auch heute noch brauche ich hinterher ungefähr zehn Minuten für mich ganz allein. Da will ich niemanden sehen."

Sprachlosigkeit und Schweigen freilich stehen schief in einer Medien-Landschaft, in der nicht zahlt, was, sondern bloss, dass drauflos gequasselt wird. Wenn nicht schon vor, so doch unmittelbar nach dem Ereignis beginnt das Zerreden und Zerschreiben. Dabei gibt es neben der debilen Schwafelorgie, die keine Sekunde und keinen Gemeinplatz ungenutzt lässt, die Sezierung: Der Körper der Kunst wird analysiert, aufgeschnitten, auseinandergenommen, untersucht, auf Mangel und Abweichungen von der Norm abgeklopft. Und wie beim Arzt: Nach einem gründlichen Untersuch ist keiner mehr richtig gesund. Am Schluss wird ein veritabler Leichnam ausgebreitet, der doch ein Kunstwerk hatte sein wollen.

Der pausenlose Diskurs der Kritik hat Methode. Er entspricht dem PR-Motto, dass der Vergessenheit anheim fällt, wer nicht ständig präsent ist. Will sie sich behaupten, muss sie immer lauter schreien, damit man sie im allgemeinen Trubel nicht überhört. Sie muss sich als Spektakel inszenieren, als News, sonst verliert die Meute das Interesse. Noch in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts meinte der Literaturkritiker Jürgen Rausch: "Kritik ist Dienst, aber nicht am Kritiker". - Vorbei! Was als Dienst gedacht war, ist nun Hauptsache. Auf der Strecke bleibt die Kunst.

II

Ergriffen sein oder ergreifen sind zwei Ebenen der Annäherung. Selten ist bei der Kritik erstere. Die Kritik ist von ihrem Selbstverständnis her besitzergreifend, okkupierend, penetrierend. Manchmal habe ich den Verdacht, Musikkritik sei der Versuch, die Musik auch noch dem Wort zu unterwerfen, sie durch Sprache zu kolonisieren.

Lässt man sich ergreifen, läuft man Gefahr, zu verstummen. Damit kann sich die Kritik nicht abfinden, das widerspricht dem Drang, der ihr in die Wiege gelegt wurde. Sie ist eine plappernde Tante der aufklärerischen Wissenschaft, die gerne alles - auch das Leben - auseinandernimmt.

Zu bedenken wäre, was Paul Feyerabend in seiner Kritik der Wissenschaft aufgegriffen hat, was aber die Wissenschaft selbst weitgehend ignoriert: Dass das Ergreifen das Objekt seiner Begierde verändert. So wie Ethnologen durch ihr blosses Erscheinen das Verhalten der Eingeborenen einer Erosion aussetzen, so verändert sich die Kunst, wenn die Kritik sie ins Scheinwerferlicht zerrt. Zu fragen wäre nach der Rückwirkung dieser Rezeption auf die Arbeit des Künstlers.

III

Wie vieles in der Zeit ihrer Kindheit - die Wissenschaft, die Vernunft, Napoleon - hat sich auch die Kritik die Krone selbst aufgesetzt. Das Subalterne passte ihr nicht. Eine dienende, vermittelnde Funktion schien ihr unangemessen. Sie wollte nicht bloss hinweisen oder erklären, nicht den Butler spielen, sondern den Hausherrn, selbst die Spielregeln bestimmen. Am liebsten war ihr die Rolle des Richters, der Verdikte fällt, der verurteilt. Geschickt schob sie sich, als Mediator verkleidet, zwischen Künstler und Publikum.

Damit hat die Kritik erfolgreich einen Makel der Geburt vedrängt, wie der Bastard am Hof: Im Grund ist ihr Dasein parasitär. Sie lebt von der Kunst anderer. Aber wie Emporkömmlinge am Hof, haben die Parasiten die Schlüsselstellen besetzt. Und wo sie überhandnehmen, stirbt bekanntlich der Wirt.

IV

Verdrängter Makel, Selbstlegitimation und Richterstuhl. Daraus leitet sich die aktuelle Stellung der Kritik ab, und sie liegt damit bequem in der Stromlinie des Zeitgeistes: Die Mittler werden wichtiger als das zu Vermittelnde.

Günter Grass hat von der Kritik als der "Selbstfeier des Sekundären" gesprochen. Das ist höflich ausgedruckt. Ihre Foren wirken wie öffentliches Onanieren. Sie produzieren heisse Luft, um von der gähnenden Leere im Hintergund abzulenken. Zwar berufen sie sich, mit Recht, auf emporschnellende Verkäufe durch blosse Erwähnungen. Das heisst aber nicht, dass die gekauften Bücher auch gelesen werden. Wen das Quartett oder irgend eine andere Runde bedient, der braucht nicht mehr zu lesen, er weiss ja alles. Die Kunstpolizisten reduzieren die Kunst auf ein eingängiges Schlagworte. So trägt sich die Bedeutungsschwere leichter. Wer Nachschau halt, findet freilich hinter den Kulissen nur noch rhetorische Styropor-Kugeln, mit denen der Pontifex maximus der Kritik jongliert hat.

"Literaten und Kritiker sitzen im Prinzip im selben Boot", sagt einer dieser Literaturpapste. Dass er das so sieht, glaube ich ihm gerne. Solche Sätze hort man oft von Leuten, die sich selber zur Partie eingeladen haben. Dass sie als blinde Passagiere zugestiegen sind, hindert sie nicht, Anspruch auf das Kommando zu erheben.

Dass sich die Kritik so gründlich vergalloppiert, hat - neben dem Trend zur Selbstfeier - ihren Grund auch darin, dass das Publikum sie galoppieren lasst. Begierig eignet es sich Kritiker- Urteile an und trägt sie als eigene Meinung vor sich. Man kauft was er empfiehlt, verschmäht was er verreisst. (Es soll "Veranstalter" geben, die einen Musiker nicht mehr engagieren, wenn er von einem bestimmten Kritiker verrissen wurde! Das allerdings spricht dann weniger gegen den Kritiker, als gegen dessen Einschätzung durch den "Veranstalter".)

V

Dagegen steht eine vermutlich überholte - sprich: konservative - Vorstellung von Kunst: Dass es wichtiger ist ein Buch zu lesen, als es zu kaufen, ein Stück Musik anzuhören, statt die CD im Regal zu haben, ein Bild zu betrachten, statt es bloss an die Wand zu hängen. Und dass die Kritik eine sekundäre Funktion hat, im besten Fall: Orientierungshilfe in unüberschaubarer Landschaft.

Man kann vom Kritiker nicht erwarten, dass er alles weiss, was sich in seinem Feld tut. Wünschenswert wären Interesse und Überblick. Indes: Je grösser das Wissen, um so grösser auch die Ahnung vom Ungewussten. Im Idealfall musste der Kritiker also je wissender je bescheidener werden.

"Kritik bedeutet nicht kritisieren", sagte Patti Smith, die selbst mal Kritiken geschrieben hat, bevor sie die Bühne betrat. "Sie bedeutet, die Augen zu öffnen, Übersetzer zu sein für den Dämon der Kreativität." Keine schlechte Devise!

POSTSKRIPTUM I

So weit, so gut. Nach diesen Worten kann ich mich auf Beifall freuen. Aber es ist gerade diese Aussicht, die mich innehalten lässt und - deformation professionelle? - misstrauisch macht. Der Zweifel wendet sich gegen mich: Setze ich nicht zu sehr auf den Wind, der den Kritikern entgegenbläst? Ist's auf seine Weise nicht auch wieder sehr stromlinienförmig? - Wenn ich nun unter die Kritiker der Kritiker falle,... vereinnahmt möchte ich auch von ihnen nicht werden.

So höre ich oft von Musikern, Musikjournalisten seien eine überflüssige Berufsgattung. Darüber lasst sich diskutieren. Nur: Wenn einen dann die Musiker, die Konzertveranstalter, die Agenten oder Plattenfirmen beknien, ob man wohl nicht doch etwas über dieses Konzert oder jene CD schreiben konnte, dann fragt man sich, für wen die Musikjournalisten überflüssig sind. Die Musiker selbst möchten offenbar nicht ganz ohne sie leben, wenn ich mich unter ihnen so umhöre... Aber festzuhalten bleibt: In diesem Fall geht die Initiative meistens von kommerziellen, nicht von künstlerischen Interessen aus (was gar nicht schlecht zu sein braucht, so lange man nicht Etikettenschwindel betreibt und die legitimen Interessen idealistisch übertüncht).

POSTSKRIPTUM II

Manchmal ist es hilfreich, einen Schritt zurückzutreten. Aus der Distanz relativiert sich vieles. Und Nebenschauplätze, wenn wir die Kunstkritik mal als solche bezeichnen wollen, fügen sich ins Ganze sinnvoll ein. Um die Analogie aus dem Insektenreich aufzunehmen: selbst Parasiten haben plötzlich eine nützliche Aufgabe, deren übergeordnetes Ziel sie gar nicht unbedingt kennen.

So könnte man den Kritiker als einen sehen, der am Lack kratzt. Und der löst sich am ehesten dort, wo er ohnehin schon etwas mürbe ist. Kritik als Erosion. Vergleichbar der Brandung (vielleicht etwas hochgestochen, der Vergleich, ich weiss), die die Küste immerzu bespült, sie untergräbt, in Frage stellt, bedroht, eine Brandung, die furchtbar kleinlich sein kann und niederreisst, was gerade so schön gewachsen ist, aber auch eine Brandung die fortwährend nagt und wegschwemmt, was überflüssig ist. Und allmählich werden so Konturen einer Landschaft der Kunst freigelegt, treten Charaktere scharfer hervor. Ein Prozess - offen, unberechenbar und nie beendet. Aber mit einem kategorischen Vorbehalt: Dienst an der Kunst, nicht am Kritiker!

Ein Zitat zum Abschluss:

Man soll vom Künstler nicht mehr verlangen, als er geben kann, und vom Kritiker nicht mehr, als er zu sehen (hören) vermag.

George Braque


Meinrad Buholzer, geboren 1947, leitet die Redaktion Luzern der Schweizerischen Depeschenagentur (sda); daneben als Musikjournalist für verschiedene Printmedien tätig. Beim vorliegende Text handelt es sich um eine überarbeitete und erweiterte Fassung einer Polemik, die 1998 entstand.


Konstruktives zur Kritik (Projektwoche 10. – 14. Dezember 2001)

Der Bass ist ein pumpender, das Schlagzeug ein gedroschenes und das Saxophon ein röhrendes: Alle kennen wir die Phrasen und Formeln, mit denen MusikkritikerInnen versuchen, der Musik sprachlich Herr zu werden. Wir ärgern uns über Verrisse und unangebrachte Lobhudeleien (oder lassen uns, sind wir selber Objekt der Beschreibung, auch schon mal von ihnen schmeicheln). Anlässlich der Dezember-Projektwoche versucht eine Veranstaltungsreihe der Fakultät III, das Verhältnis zwischen Musik und Kritik wenn nicht zu verbessern, so doch ein wenig zu klären. An fünf Abenden mit Podien, Referaten und Lesungen treten zwischen 10. und 14. Dezember namhafte MusikerInnen und KritikerInnen aus Jazz, Klassik und Pop auf und begegnen wir ausserordentlichen Kritiken und historischen Fehlurteilen. Es werden Fragen besprochen wie: Wozu braucht es Musikkritik? Gibt es Objektivität? Was macht eine gute Kritik aus und muss sie wirklich konstruktiv sein? Und nicht zuletzt: Wie können sich MusikerInnen und KritikerInnen besser verstehen?


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